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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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Vorschein bringt – jedenfalls nicht ihre besten Seiten. Im Internet gestattet sie sich, »gemeine Dinge zu sagen«. Sie sagt: »Man braucht es ja keinem Menschen ins Gesicht zu sagen. Man sieht nicht, wie der andere reagiert oder so, und es ist, als wenn man mit einem Computerbildschirm redet, so dass man es nicht merkt, wenn man den anderen verletzt. Man kann sagen, was man will, weil man ja zu Hause sitzt und keiner etwas dagegen tun kann.« Drea, eine Klassenkameradin, die neben Marcia sitzt, spöttelt: »Aber nicht, wenn sie wissen, wo du wohnst«, doch Marcia will die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie hat sich viele Male dabei ertappt, dass sie grausam war. Sie beendet das Gespräch abrupt: »Man sieht nicht die Auswirkungen, die das, was man sagt, auf jemand anderen hat.«
    Marcia und Drea gehören zu einer Gruppe von Schülern an der Silver Academy, mit der ich mich über die Etikette des Online-Lebens unterhalte. Zeke erzählt, dass er sich auf MySpace falsche Identitäten zugelegt habe. Er habe Bilder aus Zeitschriften eingescannt und dazu Fantasie-Profile geschrieben. Dann hat er mit diesen Identitäten Gespräche über sich selbst angefangen – sehr kritische Gespräche – und darauf gewartet, wer sich meldet. Er sagt, das sei eine Möglichkeit, »herauszufinden, ob die Leute einen ablehnen«. Diese Praxis, die auf der Silver Academy nicht ungewöhnlich
ist, erzeugt große Ängste. Zekes Geschichte erinnert mich an John, Schüler derselben Schule und ebenfalls sechzehn, der seine elektronischen Flirts an talentierte »Cyranos« delegierte. Als John seinen Klassenkameraden davon erzählte, entfachte seine Geschichte eine gereizte Debatte darüber, dass man nie wirklich weiß, wer am anderen Ende sitzt, wenn man eine Nachricht verschickt oder erhält. Nachdem sie Zekes Bericht gehört hat, greift Carol jetzt dieses Thema auf. »Du weißt nie«, sagt sie, »mit wem du redest. Beispielsweise könnte ein Kind dich über deinen Freund ausfragen, aber du musst aufpassen. Es könnte auch dein Freund selbst sein. Auf MySpace … kannst du dir eine Menge Ärger einhandeln.«
    Andere Schülerinnen und Schüler kommen hinzu und beteiligen sich an der Diskussion über den »Ärger«. Eine sagt: »Facebook hat mein Leben an sich gerissen.« Sie bringt es nicht fertig auszusteigen. »Ich erwische mich dabei, wie ich auf gut Glück Fotos irgendwelcher Leute betrachte oder irgendwas mache. Dann merke ich hinterher, dass es Zeitverschwendung war.« Eine andere sagt, sie könne ihr Telefon gar nicht aus der Hand legen, weil sie Angst habe, »etwas zu verpassen«. Außerdem »hat es eine Kamera. Und die Uhrzeit. Ich kann dauernd bei meinen Freunden sein. Es ist unheimlich nervenaufreibend, sein Telefon nicht griffbereit zu haben.« Eine Dritte fasst alles zusammen, was sie gehört hat: »Die Technik ist etwas Schlechtes, weil die Leute nicht so stark sind wie Anziehungskraft, die sie ausübt.«
    Die Angst ist ein fester Bestandteil der neuen Konnektivität. Und doch fehlt dieser Begriff häufig, wenn wir über die Revolution in der mobilen Kommunikation reden. Unsere üblichen Gespräche über moderne Technologie beginnen mit höflicher Geringschätzung dessen, was vorher war, und gehen dann zur Idealisierung des Neuen über. So wird zum Beispiel das Lesen im Internet mit seinen Links und Hypertext-Möglichkeiten gern in den höchsten Tönen gelobt,
während man das Buch als »überholt« abtut. Das hört sich dann ungefähr so an: Die alte Art zu lesen war linear und exklusiv; die neue ist demokratisch, weil sich jeder Text auf verlinkte Seiten öffnet  – ganze Kettenreaktionen neuer Ideen. 1 Aber das ist natürlich nur die eine Geschichte – diejenige, die uns die Technologen und ihre Anhänger gern erzählen. Es gibt aber noch eine andere. Das Buch ist mit Tagträumen und persönlichen Assoziationen verbunden, weil Leser in sich hineinschauen. Das Lesen am Bildschirm – zumindest soweit es die Highschool- und College-Studenten betrifft, die ich befragt habe – verleitet einen immerfort, irgendwoanders hinzuschauen. 2 Und da stehen nur selten Querverweise oder einschlägige Kommentare. Häufiger wird man durch E-Mails, Shopping-Angebote, Facebook oder MySpace abgelenkt. Diese »andere Geschichte« ist komplex und menschlich. Aber sie kommt nicht in der triumphalen Darstellung vor, die jede neue technologische Errungenschaft als Gelegenheit preist, aber nie von Verletzlichkeit, nie von

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