Verloren unter 100 Freunden
Ängsten spricht.
Ähnliche Idealisierungen gab es, als klar wurde, dass vernetzte Computer das menschliche Multitasking erleichterten. Pädagogen waren schnell dabei, die Vorteile zu rühmen, die darin lagen, dass man mehrere Dinge auf einmal machte: Das war die Denk- und Arbeitsweise der Zukunft. Inzwischen wissen wir, dass Multitasking die Qualität jeder einzelnen Tätigkeit, die wir ausüben, mindert. Wir werden sicher damit weitermachen, entschlossen, optimale Leistungen gegen die Einsparungen zu tauschen, die wir machen, indem wir mehrere Dinge gleichzeitig tun. Multitasking im Internet kann allerdings, wie Lesen auf dem Bildschirm, eine nützliche Entscheidung sein, ohne dass man gleich einen Heldenmythos moderner Technologie daraus machen müsste.
Wir sollten unsere moderne Technik genügend lieben, um sie genau zu beschreiben. Und wir sollten uns selbst genügend lieben,
um nicht die Augen vor den Auswirkungen zu verschließen, die sie auf uns hat. Diese zurechtgerückten Mythen sind eine Art Realtechnik . Bei der Realtechnik der Konnektivitätskultur geht es um Möglichkeiten und ihre Ausführung, aber auch um Probleme und Irritationen des vernetzten Ichs. Die Technik hilft uns, bestimmte äußere Belastungen besser zu bewältigen, erzeugt aber wiederum eigene Ängste. Chancen und Probleme sind häufig eng miteinander verknüpft.
So hilft beispielsweise die mobile Kommunikation Jugendlichen dabei, mit Ablösungsproblemen fertigzuwerden. Wenn man mit einem Handy von zu Hause weggeht, ist man nicht gleich so abgeschnitten und kann die Loslösung in kleineren Schritten vollziehen. Aber gleichzeitig stellt man womöglich fest, dass man jetzt den ganzen Tag lang mit seinen Eltern telefoniert. Und die Freunde sind auch immer da. Man genießt das Gefühl, nie allein sein zu müssen. Sich ein bisschen ausgesetzt zu fühlen wurde früher als fester Bestandteil des Heranwachsens betrachtet, und zwar als einer, der die inneren Ressourcen freisetzt. Jetzt kann man diesen Zustand durch die Vernetzung umgehen. Teenager sagen, sie wollen ihr Handy immer griffbereit haben, und loben, dass man damit »immer jemanden finden kann«.
Manchmal benutzen Heranwachsende das digitale Netzwerk, um mit denen in Kontakt zu bleiben, die sie »in Wirklichkeit kennen«, aber was ist mit reinen Online-Freunden? Was bedeuten sie für einen? Man hat sie vielleicht nie getroffen und läuft doch durch die Gänge seiner Schule und überlegt, was man ihnen sagen will. Man wird in Facebook belästigt und kann sich doch nicht vorstellen auszusteigen, weil man das Gefühl hat, das eigene Leben spiele sich dort ab. Und man wird auch selbst zum Facebook-Belästiger. Facebook fühlt sich an wie ein »Zuhause«, aber man weiß, dass es einen in eine Öffentlichkeit versetzt, in der man ständig beobachtet
wird. Man kämpft in einer Online-Clique um Anerkennung. Aber die ist von erfinderischer Grausamkeit geprägt, und man muss aufpassen, was man sagt. Dieser jugendliche Nachrichtenverkehr bleibt ein Leben lang im Internet, so wie jene, mit denen man sich auf Facebook »anfreundet«, dort nie wieder verschwinden werden. Die Angst geht um und breitet sich aus.
Risikomanagement
Wir haben Julia, sechzehn, Zehntklässlerin an der Branscomb-Highschool, kennen gelernt, für die Chatten eine Möglichkeit war, sich ihre Gefühle einzugestehen oder sie überhaupt erst zu entdecken. Als Einzelkind verbrachte Julia ihre frühe Kindheit bei ihrer Tante, denn ihre Mutter war herzkrank. Als Julia neun war, unterzog sich ihre Mutter einer erfolgreichen Operation, und Julia konnte zu ihr und dem neuen Stiefvater ziehen. Als die Ehe in die Brüche ging, machten Mutter und Tochter sich auf ihren eigenen Weg. Nachdem ihre Gesundheit wiederhergestellt war, beendete Julias Mutter das College, und inzwischen betreibt sie eine kleine Arbeitsvermittlung.
Als sie jünger war, sah Julia ihren Vater einmal in der Woche. Aber ihm war das zu wenig, und er machte Julia Vorwürfe deswegen. Sie fühlte sich zwischen ihren Eltern hin- und hergezerrt. »Also«, sagt sie jetzt, »hab ich aufgehört, meinen Vater anzurufen.« Natürlich wünschte sie sich dann, wie es in solchen Situationen häufig der Fall ist, sehnlichst, er möge sie anrufen. »Ich wollte, dass er mich anruft, aber er tat es nicht. … Aber hätte ich ihn angerufen, dann hätte er sich doch nur beschwert, dass ich zu wenig mit ihm rede.« Und so versickerte ihre Beziehung allmählich in gegenseitigem Groll:
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