Verloren unter 100 Freunden
glaubt, dass sein AIBO ihn erkennt und dass sie beide eine besondere Beziehung führen. Nichtsdestotrotz wird Henrys Umgang mit dem Roboter immer aggressiver. Er stößt ihn ständig um, versetzt ihm einen Schubser nach dem anderen, während er zwei widersprüchliche Behauptungen über die Maschine aufstellt. Zuerst sagt er, dass »AIBO eigentlich gar keine Gefühle hat«, was Henrys aggressiven Umgang zulässig machen würde. Aber er sagt auch, der AIBO würde ihn seinen Freunden vorziehen, also etwas, das auf Gefühle hinweist:
»AIBO mag meinen Freund Ramon nicht besonders«, sagt Henry lächelnd. Je länger er darüber spricht, dass AIBO andere Kinder nicht mag, desto größer wird seine Sorge, dass seine gegen den Roboter gerichteten Aggressionen Folgen haben könnten. Schließlich könnte der AIBO eines Tages auch ihn nicht mehr mögen. Um aus dieser Zwickmühle herauszukommen, stuft Henry den Roboter auf die »Er tut nur so als ob«-Ebene zurück. Aber dann wird er unzufrieden, weil sein Glaube an AIBOs Zuneigung sein Selbstwertgefühl steigert. Henry hat sich in einem komplizierten Liebestest verfangen. Bei unserem Übergang zu postbiologischen Beziehungen produzieren wir ganz eigene neue Kalamitäten.
Sobald Kinder Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre auf Computer und Computerspielzeug trafen, nutzten sie ihre Aggression als Weg, den Objekten Leben einzuhauchen und mit Ideen über Leben und Tod zu spielen. Kinder brachten Computerprogramme zum Absturz und wieder zum Laufen; sie »töteten« Merlin, Simon und Speak & Spell, indem sie die Batterien herausnahmen und wieder einsetzten. Gegen soziale Roboter gerichtete Aggressionen sind viel komplexer, weil Kinder versuchen, mit weit bedeutsameren Bindungen umzugehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Roboter enttäuschen, wenn sie nicht die von Kindern erwartete Zuneigung zeigen. Um Schmerz zu vermeiden, möchten Kinder die Dinge einen Gang zurückschalten. Roboter in Objekte zu verwandeln, denen man straflos wehtun kann, ist eine Möglichkeit, die Maschinen in ihre Schranken zu weisen. Ob es uns erlaubt ist, einem Objekt wehzutun oder es zu töten, beeinflusst, wie wir über das Leben denken. 10 Dadurch, dass Kinder ohne Bestrafung Spinnen töten dürfen, erscheinen ihnen Spinnen weniger lebendig, und einem Roboter wehzutun kann auch ihn weniger lebendig erscheinen lassen. Aber genau wie bei der Diskussion darüber, ob das My Real Baby vor »Schmerzen« weinen sollte, liegen die Dinge auch hier nicht
ganz einfach. Denn die Vorstellung, einem Roboter wehtun zu können, kann ihn auch lebendiger erscheinen lassen.
Wie Henry verhält sich auch die zwölfjährige Tamara aggressiv gegenüber ihrem AIBO und ist beunruhigt darüber, was dies impliziert. Sie möchte mit dem AIBO in derselben Art und Weise spielen wie mit ihrer heiß geliebten Katze. Aber es stört sie, dass AIBOS Reaktionen auf sie programmiert sind. Sie sagt: »AIBO verhält sich zu allen Leuten gleich. Er hat keine Bindung zu einer bestimmten Person, so wie es bei den meisten Tieren der Fall ist.« Tamara sagt, sie würde sich manchmal zwingen, damit aufzuhören, den AIBO zu streicheln: »Wenn ich ihn streichle, halte ich manchmal inne und sage mir: ›Moment mal, du bist doch keine Katze. Du bist nicht lebendig. ‹« Und manchmal gibt sie dem Drang nach, den AIBO umzuschubsen, »weil es so süß aussieht, wie er sich wieder aufrappelt und den Kopf schüttelt; dann kommt er mir wirklich lebendig vor, denn Hunde verhalten sich genauso.« Sie versucht mich zu beruhigen: »Mit Tieren gehe ich nicht so um.«
Seit ihren ersten Erlebnissen mit elektronischem Spielzeug Ende der Siebzigerjahre betrachteten Kinder die Begriffe Bewusstsein und Lebendigkeit als verschiedene Dinge. Man musste nicht biologisch lebendig sein, um ein Bewusstsein zu besitzen. Und so glaubt Tamara, dass der AIBO durchaus Schmerz empfinden könnte, obwohl sie weiß, dass der Roboter nicht lebendig ist. Letztlich versetzen ihre Aggressionen sie in eine schwierige Lage: AIBO ist zu sehr wie ein Gefährte, um ein Sandsack zu sein. Für Tamara ist die Vorstellung erschreckend, dass der Roboter gut genug »sehen« könnte, um sie zu erkennen, denn dann könnte er wissen, dass sie ihn umstößt. Aber gleichzeitig ist es aufregend, sich den AIBO als bewusstes und damit lebensechteres Wesen vorzustellen.
Tamara projiziert ihre Befürchtung, der AIBO könnte wissen, dass sie ihm wehtut, und erzeugt damit etwas, wovor sie Angst
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