Verloren unter 100 Freunden
würde er einen Gegner abschätzen. Plötzlich brüllt er: »Sag ›Halt die Klappe‹! Sag ›Halt die Klappe!‹ Sag ›Hi!‹ … Sag ›Blah!‹« Die Erwachsenen im Raum schweigen. Wir haben den Kindern keine Regeln vorgegeben, was sie sagen dürfen und was nicht. Plötzlich sagt Kismet: »Hi.« Shawn lächelt und versucht Kismet erneut zum Sprechen zu bringen. Als Kismet nicht reagiert, stopft Shawn ihm einen Kugelschreiber in den Mund. »Hier! Iss das!« Wie Edward bekommt auch Shawn gar nicht genug von dieser »Übung«.
Eine Möglichkeit, Estelle und Leon, Edward und Shawn zu beschreiben, ist, dass gerade diese Kinder unter mangelnder Zuwendung
leiden und deshalb einen besonders starken Wunsch nach einer Bindung hegen. Als die Roboter ihnen diese verwehren, trifft sie dies stärker als die anderen Kinder. Natürlich stimmt das. Aber diese Erklärung schiebt die volle Last den Kindern zu. Eine andere Möglichkeit, ihre Situation zu betrachten, lässt mehr Verantwortung bei uns. Was hätten wir diesen Kindern gegeben, wenn die Roboter in Topform gewesen wären? Im Fall von Edward und Shawn haben wir es mit »Klassenrabauken« zu tun, mit Jungen, vor denen alle anderen Angst haben. Aber die beiden sind einsam. Als Rabauken sind sie isoliert, sind oft allein oder umgeben von Kindern, die keine Freunde sind, sondern die sie einfach herumkommandieren können. Sie betrachten Roboter als etwas Machtvolles, Kompliziertes und wahrscheinlich sehr Teures. Sich vorzustellen, ein solches Ding zu kontrollieren, ist ein aufregender Gedanke. Für sie ist ein sozialer Roboter ein möglicher Freund – einer, der im Gegenzug nicht allzu viel erwarten und der sie nie zurückweisen würde, aber dem sie sich anvertrauen könnten. Aber wie die unsicheren Estelle und Leon sind auch dies Kinder, die vor allem Beziehungen benötigen, die auf Gegenseitigkeit beruhen und in denen Kontrolle nicht das Ausschlaggebende ist. Warum bringen wir sie überhaupt mit Robotern in Berührung? Aus diesem Blickwinkel betrachtet, entstehen die Probleme nicht erst, wenn die Roboter kaputtgehen. Verletzlichen Kindern ist mit Robotern nicht geholfen, selbst wenn diese perfekt funktionieren.
Nochmals auf ethischem Terrain
Im Roboterlabor sind die Kinder von Erwachsenen umgeben, die zu den Robotern sprechen und ihnen Dinge beibringen. Die Kinder begreifen schnell, dass Cog Brian Scassellati und Kismet Cynthia
Breazeal braucht. Die Kinder betrachten die beiden als Eltern der Roboter. Und beide stehen kurz davor, das Artificial Intelligence Laboratory zu verlassen, an dem sie einst studiert haben, und Fakultätsposten zu übernehmen.
Breazeal wird am MIT bleiben, aber vom KI-Labor zum Media Lab wechseln. Beide Labore sind nicht weit voneinander entfernt, aber die Tradition der akademischen Besitzrechte verlangt, dass Kismet, genau wie Cog, in dem Labor verbleibt, das seine Entwicklung finanziert hat. Der Sommer der Erste-Begegnung-Studie ist das letzte Mal, dass Breazeal Zugang zu Kismet hat. Breazeal spricht von einem einschneidenden Verlustgefühl. Einen neuen Kismet zu bauen ist nicht dasselbe. Dies ist der Kismet, den sie von »Kindesbeinen« an »großgezogen« hat. Sie sagt, sie könne sich nicht von Kismet trennen, wenn sie nicht wüsste, dass er bei Leuten bleibt, die ihn gut behandeln.
Es ist keine Überraschung, dass Breazeal die Trennung schwerfällt; viel erstaunlicher ist, wie schwer sich die Leute rings um Kismet den Roboter ohne Breazeal vorstellen können. Eine Zehnjährige, die zwei Studenten darüber sprechen hört, dass Kismet im Labor verbleiben wird, widerspricht leise: »Aber Cynthia ist doch Kismets Mutter.« 12 Breazeal mit Kismet agieren zu sehen, lässt einen tatsächlich an eine mütterliche Bindung denken, eine Bindung, die, wie Breazeal sagt, »mehr ist als die zu einer bloßen Maschine«. Sie kennt Kismet in- und auswendig, und doch gibt es immer wieder Überraschungen, die sie begeistern. Ihre Situation erinnert an eine klassische Science-Fiction-Geschichte von Brian Aldiss, »Supertoys Last All Summer Long«, die vor allem durch die Steven-Spielberg-Verfilmung A.I.: Künstliche Intelligenz bekannt wurde. 13 Darin bauen Wissenschaftler einen humanoiden Roboter, David, der darauf programmiert ist zu lieben. David drückt seine Liebe gegenüber einer Frau aus, Monica, die ihn als ihr Kind adoptiert hat.
Das Hauptthema des Films ist nicht die potentielle Realität eines Roboters, der »liebt« – wir sind weit davon
Weitere Kostenlose Bücher