Verlorene Illusionen (German Edition)
unüberwindlicher Trinker und der einzige war, der noch sprechen konnte; er schlug den Verschlafenen einen Toast auf die rosenfingrige Aurora vor.
Lucien war an die Pariser Orgien nicht gewöhnt; er hatte seinen Verstand noch beisammen, als er die Treppe hinabstieg, aber die frische Luft brachte seine greuliche Betrunkenheit erst zum Ausbruch. Coralie und ihre Zofe mußten den Dichter in den ersten Stock des schönen Hauses in der Rue de Vendôme, in dem die Schauspielerin wohnte, hinauftragen. Auf der Treppe wurde es Lucien sehr übel, und er mußte sich übergeben.
»Schnell! Berenice,« rief Coralie, »Tee! mach Tee!«
»Es ist nichts, es ist die Luft,« sagte Lucien, »und ich habe noch nie so viel getrunken.«
»Armes Kind! Er ist unschuldig wie ein Lamm,« sagte Berenice, eine plumpe Normännin, die ebenso häßlich war, wie Coralie schön.
Endlich war Lucien, ohne daß er etwas davon wußte, in Coralies Bett untergebracht. Die Schauspielerin hatte, mit Unterstützung Berenices, ihren Dichter mit der Sorgfalt und Liebe einer Mutter für ihr kleines Kind ausgezogen. Dabei sagte er fortwährend:
»Es ist nichts, es ist die Luft. Danke, Mama.«
»Wie er so schön Mama sagt«, rief Coralie und küßte ihn auf die Haare.
»Wie schön muß es sein, einen solchen Engel zu lieben, Fräulein! Wo haben Sie ihn aufgefischt? Ich hätte nicht gedacht, daß es einen Mann geben könnte, der so schön ist wie Sie«, sagte Berenice. Lucien wollte schlafen, er wußte nicht, wo er war, und sah nichts; Coralie ließ ihn mehrere Tassen Tee trinken, dann überließ sie ihn dem Schlaf.
»Die Portiersfrau hat uns nicht gesehen, und auch sonst niemand?« fragte Coralie.
»Nein, ich habe Sie erwartet.«
»Victoire weiß nichts?«
»Kein Gedanke«, sagte Berenice.
Zehn Stunden später, gegen Mittag, erwachte Lucien. Coralie saß neben ihm, sie hatte ihn im Schlaf betrachtet. Der Dichter begriff. Die Schauspielerin war noch in ihrem schönen, aber abscheulich verschmutzten Kleide, aus dem sie eine Reliquie machen wollte. Lucien erkannte die Aufopferung, die Zartheit der wahren Liebe, die ihre Belohnung haben sollte: er sah Coralie an. Coralie war in einem Augenblick ausgezogen und schlang sich um Lucien. Um fünf Uhr schlief der Dichter, von himmlischer Wollust gewiegt; er hatte das Zimmer der Schauspielerin, ein entzückendes Werk des Luxus, ganz in Weiß und Rosa, eine Welt von Wundern und koketten Zierlichkeiten, gesehen, die weit überstiegen, was Lucien schon bei Florine bewundert hatte. Coralie war auf. Um ihre Rolle als Andalusierin zu spielen, mußte sie um sieben Uhr im Theater sein. Sie hatte noch ihren Dichter betrachtet, der im Genuß eingeschlafen war, sie war wie trunken und konnte sich nicht trennen von dieser edlen Liebe, die die Sinne mit dem Herzen und das Herz mit den Sinnen verband, um sie beide zu entzücken. Dieses himmlische Gefühl, wo man im Irdischen zu zweit ist, um mit allen Sinnen, ein einziges Wesen im Himmel, zu leben, zu lieben, war ihre Absolution. Was hätte übrigens die übermenschliche Schönheit Luciens nicht entschuldigt? Die Schauspielerin kniete vorm Bett, war glücklich über ihre eigene Liebe und fühlte sich geweiht. Diese Wonnen wurden von Berenice gestört.
»Der Camusot ist da! Er weiß, daß Sie hier sind!« rief sie.
Lucien richtete sich auf, mit angeborener Vornehmheit dachte er sofort daran, daß er Coralie nicht schaden dürfte. Berenice hob einen Vorhang. Lucien trat in ein entzückendes Ankleidekabinett, in das Berenice und ihre Herrin mit unerhörter Schnelligkeit Luciens Kleider brachten. Als der Kaufmann eintrat, fielen Coralies Augen auf Luciens Stiefel: Berenice hatte sie vor das Feuer gestellt, um sie zu wärmen, nachdem sie sie heimlich gewichst hatte. Die Dienerin und ihre Herrin hatten diese verräterischen Stiefel vergessen. Berenice ging, nachdem sie mit ihrer Herrin unruhige Blicke gewechselt hatte. Coralie setzte sich auf das Sofa und bat Camusot, sichs auf einem Schaukelstuhl ihr gegenüber bequem zu machen. Der Wackere, der Coralie anbetete, sah die Stiefel an und wagte nicht, die Augen zu seiner Geliebten zu erheben.
›Soll ich nun wegen dieses Paars Stiefel böse werden und Coralie verlassen? Das wäre schlimm, wegen so einer Kleinigkeit. Stiefel gibt es überall. Die hier stünden besser auf dem Regal eines Schuhmachers oder gingen an den Füßen eines Mannes auf den Boulevards spazieren. Hier aber sagen sie auch ohne Füße mancherlei, was nichts mit
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