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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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beobachtete, wie er schon dabei war, sein Gewissen zur Ruhe zu bringen, sagte er sich: ›Das ist mein Mann.‹
    In der Tat hatte Petit-Claud, dem die Verachtung, der er überall begegnete, das Leben verbitterte, an dem die brennende Gier zehrte, in die Höhe zu kommen, die Kühnheit gehabt, obwohl er kein Vermögen besaß, die Praxis seines Chefs für dreißigtausend Franken zu kaufen, wobei er auf eine Heirat rechnete, um die Schuld bezahlen zu können; und wie es üblich ist, rechnete er auf seinen Chef, daß der eine Frau für ihn fände, denn der Vorgänger hat immer ein Interesse daran, seinen Nachfolger zu verheiraten, um zu seinem Gelde zu kommen. Petit-Claud rechnete noch mehr auf sich selbst, denn es fehlte ihm nicht an einer gewissen geistigen Überlegenheit, die in der Provinz selten ist und die in seinem Haß wurzelte. »Großer Haß bringt es zu was.«
    Es ist ein großer Unterschied zwischen den Advokaten von Paris und denen der Provinz, und der große Cointet war schlau genug, sich die kleinen Regungen, denen diese Provinzadvokaten gehorchen, zunutze zu machen. In Paris hat ein bedeutender Advokat, und dort gibt es deren viele, Eigenschaften nötig, die den Diplomaten auszeichnen: die große Zahl der Geschäfte, der Umfang der Interessen, die im Spiel sind, das weite Gebiet der Fragen, mit denen er sich abgeben muß, all das wirkt zusammen, daß er im Prozeßverfahren selbst nicht ein Mittel sehen muß, um zu Vermögen zu kommen. Gleichviel, ob er den Kläger oder Beklagten vertritt, ist das Prozeßverfahren für ihn nicht mehr wie früher ein Mittel zu seiner Bereicherung. In der Provinz dagegen kultivieren die Advokaten, was man wohl den Kleinkram nennt: diese Unzahl kleiner Urkunden, Protokolle und Aktenstücke, die die Kostenrechnungen in die Höhe treiben und Stempelpapier verbrauchen. Diese kleinen Geschäftchen beschäftigen den Provinzadvokaten, er muß darauf halten, da Gebühren zu erheben, wo der Pariser Advokat sich nur um Honorare kümmert. Honorare sind das, was der Klient über die Kosten hinaus seinem Advokaten für die mehr oder weniger geschickte Führung seiner Sache zahlen muß. Der Fiskus bekommt die Hälfte der Kosten, während die Honorare ganz und gar dem Advokaten gehören. Sagen wir es frei heraus: die Honorare, die wirklich bezahlt werden, stehen selten im rechten Verhältnis zu den Honoraren, die für die Dienste, die ein guter Advokat leistet, formell verlangt und berechnet werden. Die Advokaten und die Ärzte von Paris sind, wie die Prostituierten gegen ihre Gelegenheitsliebhaber, außerordentlich mißtrauisch gegen die Erkenntlichkeit ihrer Klienten. Der Klient vor und nach dem Prozeß, das könnte zwei treffliche, eines Meissonier würdige Genrebilder abgeben, um die sich ohne Frage die honorierten Advokaten reißen würden. Es gibt zwischen dem Advokaten von Paris und dem der Provinz noch einen anderen Unterschied. [Fußnote: Hier muß zum Verständnis des deutschen Lesers bemerkt werden, daß es in Frankreich zwei Arten von Advokaten gibt: der eine, der avoué , vertritt die Interessen des Klienten in seinem Bureau durch Aufnahme von Aktenstücken, Protokollen, gute Ratschläge usw.; der andere, der avocat , plädiert vor Gericht. Herr Petit-Claud war ein avoué , und alles, was bisher gesagt wurde, bezog sich auf die avoués in der Provinz und in Paris. ] Der Bureauadvokat von Paris plädiert selten vor Gericht, er spricht nur manchmal, wenn es sich um Anträge zu vorläufiger Entscheidung handelt; aber im Jahre 1822 waren in den meisten Departements – seitdem haben sich die Gerichtsadvokaten stark vermehrt – die Bureauadvokaten zugleich Gerichtsadvokaten und vertraten ihre Sache selbst in den Terminen. Aus diesem Doppelleben ergibt sich eine doppelte Arbeit, die dem Bureauadvokaten der Provinz die geistigen Laster des Gerichtsadvokaten gibt, ohne ihm die drückenden Geschäfte des Bureauadvokaten abzunehmen. Der Bureauadvokat der Provinz wird ein Schwätzer und verliert die Klarheit des Urteils, die für die Führung der Prozesse so nötig ist. Ein geistig überlegener Mensch, der sich so verdoppelt, findet oft zwei Durchschnittsmenschen in sich. In Paris kann sich der Bureauadvokat, der sich nicht in Worten vor dem Gerichtshof ausgeben muß, der nicht oft das Für und das Gegen herüber und hinüber beschwatzt, die Geradheit seiner Gedanken bewahren. Wenn er die Ballistik des Rechts beherrscht, wenn er das Arsenal der Mittel durchwühlt, die ihm die

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