Verlorene Illusionen (German Edition)
Petit-Claud.
»Nicht ganz und gar, aber er muß eine Zeitlang im Gefängnis bleiben ...«
»Und zu welchem Zweck?«
»Glauben Sie, ich sei so dumm, Ihnen das zu sagen? Wenn Sie gescheit genug sind, es zu erraten, werden Sie auch gescheit genug sein, zu schweigen.«
»Der alte Séchard ist reich«, meinte Petit-Claud. Er lebte schon in der Gedankenwelt von Boniface und faßte einen Umstand ins Auge, der störend sein konnte. »Solange der Alte lebt, gibt er seinem Sohn keinen Heller, und dieser alte Buchdrucker hat noch keine Lust abzukratzen.«
»Also abgemacht!« sagte Petit-Claud, der sich schnell entschloß. »Ich fordere keine Bürgschaften von Ihnen, ich bin Advokat; verliere ich das Spiel, dann werden wir beide zu zahlen haben.«
›Der Kerl wirds weit bringen‹, dachte Cointet und verabschiedete sich von Petit-Claud.
Am Tage nach dieser Konferenz, am dreißigsten April, ließen die Gebrüder Cointet den ersten der drei Wechsel, die Lucien hergestellt hatte, präsentieren. Zum Unglück wurde der Wechsel der armen Frau Séchard überreicht, die sofort merkte, daß Lucien die Unterschrift ihres Mannes nachgeahmt hatte, David herbeirief und ihm auf den Kopf zusagte: »Du hast diesen Wechsel nicht unterschrieben.«
»Nein«, antwortete er. »Dein Bruder hatte es so eilig, daß er für mich unterzeichnet hat ...«
Eva gab dem Kassenboten des Hauses Gebrüder Cointet den Wechsel zurück und sagte: »Wir sind nicht in der Lage ...«
Dann stieg sie, da sie fühlte, daß ihre Kräfte sie verließen, in ihr Zimmer hinauf, und David folgte ihr.
»Lieber,« sagte Eva mit gebrochener Stimme zu Séchard, »eile zu den Herren Cointet, sie werden Rücksicht auf dich nehmen; bitte sie, zu warten, und überdies gib ihnen zu verstehen, daß sie dir bei der Erneuerung des Pachtvertrags mit Cérizet tausend Franken schuldig sind.«
David ging sofort zu seinen Feinden. Ein Faktor kann immer Buchdrucker werden, aber ein tüchtiger Buchdrucker ist nicht immer ein Kaufmann: und so stand David, der von Geschäften nicht viel verstand, in großer Verlegenheit vor dem großen Cointet, als er von diesem, nachdem er mit erstickter Stimme und mit klopfendem Herzen schlecht und recht seine Entschuldigungen gestammelt und seine Bitte vorgebracht hatte, die folgende Antwort erhielt: »Das ist eine Sache, die uns gar nichts angeht; wir haben den Wechsel von Métivier, Métivier wird uns zahlen. Wenden Sie sich an Herrn Métivier.«
»Oh!« rief Eva, als sie diese Antwort vernahm, »wenn der Wechsel an Herrn Métivier zurückgeht, können wir ruhig sein.«
Am nächsten Tage, um zwei Uhr, zu einer Stunde, wo die Place du Mûrier voller Menschen ist, protestierte Victor-Ange-Herménégilde Doublon, der Gerichtsvollzieher der Firma Cointet, den Wechsel; und trotz der Mühe, die er sich gab, an der Haustür mit Marion und Kolb zu plaudern, war der Protest am Abend in der ganzen kaufmännischen Welt von Angoulême bekannt. Konnten überdies die heuchlerischen Manieren von Doublon, dem der große Cointet die größte Rücksicht anempfohlen hatte, Eva und David vor der kaufmännischen Schande retten, die einer Zahlungsstockung auf dem Fuße folgt? Man urteile selbst! Die Längen der Darstellung werden hier zu kurz erscheinen. Neunzig Leser von hundert werden von den Einzelheiten, die jetzt folgen, gepackt werden wie von der pikantesten Neuigkeit. Und so wird wieder einmal die Wahrheit des Grundsatzes bewiesen: Es gibt nichts Unbekannteres, als was jeder kennen müßte: das Gesetz!
Gewiß müßte für die ungeheure Mehrheit der Franzosen der Mechanismus eines der Räderwerke der Bank in guter Schilderung so interessant sein wie ein Kapitel aus einer Reisebeschreibung. Wenn ein Kaufmann aus der Stadt, in der er sein Geschäft hat, einen Wechsel an jemanden schickt, der in einer andern Stadt wohnt, wie man annehmen mußte, daß es David, um Lucien zu dienen, getan hatte, dann handelt es sich nicht mehr um die einfache Sache eines Wechsels, der in derselben Stadt zur Erledigung eines kaufmännischen Geschäfts von einem Geschäftsmann dem anderen gegeben wird, sondern um etwas, was wie der Wechselbrief aussieht, der von einem Platz auf den anderen gezogen wird. So war Métivier, als er Lucien die drei Wechsel abgenommen hatte, um den Betrag zu erhalten, genötigt, sie der Firma Gebrüder Cointet, seinen Geschäftsfreunden, zu schicken. Daraus ergab sich für Lucien ein erster Verlust, der mit dem Namen ›Kommission für die Versendung
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