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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Franken jährlich. Man verdreifache den Durchschnitt dieser Rückrechnungen, und man kommt auf eine Einnahme von dreißigtausend Franken, die diese fiktiven Kapitalien bringen. Es wird daher nichts liebevoller betrieben als das System dieser Rückrechnungen. Wäre David Séchard am dritten Mai gekommen, um seinen Wechsel zu bezahlen, oder auch gleich am Tage nach dem Protest, dann hätten die Gebrüder Cointet ihm gesagt: »Wir haben Ihren Wechsel Herrn Métivier zurückgeschickt!« auch wenn der Wechsel noch auf ihrem Pulte gelegen hätte. Die Rückrechnung ist schon am Abend nach dem Protest in Kraft. In der Sprache der Provinzbankiers nennt man das ›die Taler schwitzen lassen‹. Das Briefporto allein bringt dem Hause Keller, das mit der ganzen Welt korrespondiert, etliche zwanzigtausend Franken ein, und die Rückrechnungen bezahlen der Baronin von Nucingen die Loge in der Italienischen Oper, den Wagen und die Toilette. Das Briefporto ist ein um so furchtbarerer Mißbrauch, als die Bankiers in zehn Zeilen eines einzigen Briefes zehn Angelegenheiten erledigen. Seltsam! Der Fiskus hat an dieser Steuer, die dem Unglück auferlegt wird, seinen Anteil, und der Staatsschatz wird also durch geschäftliches Mißgeschick bereichert. Und die Bank schleudert dem Schuldner von ihrem Kontor aus die begründete Frage zu: »Warum sind Sie nicht imstande zu zahlen?« worauf man zum Unglück nichts zu antworten weiß. So ist diese Rückrechnung ein Märchen voll schrecklicher Erfindungen, und die Schuldner, die über diese lehrreiche Seite nachdenken, werden künftig eine heilsame Scheu vor ihr haben.
    Am vierten Mai erhielt Métivier von Gebrüder Cointet die Rückrechnung mit dem Auftrag, Herrn Lucien Chardon, genannt von Rubempré, in Paris aufs äußerste zu verfolgen.
    Einige Tage später bekam Eva in Beantwortung des Briefes, den sie an Herrn Métivier geschrieben hatte, die folgenden Zeilen, die sie völlig beruhigten.
    »Herrn Séchard jr., Drucker in Angoulême
    Ich erhielt Ihr Geehrtes vom 5. dieses. Ich entnahm Ihren Erklärungen über den nichtbezahlten Wechsel vom 30. April, daß Sie Ihrem Schwager, Herrn von Rubempré, eine Gefälligkeit erwiesen haben; aber dieser macht so viele Ausgaben, daß man Ihnen einen Dienst damit erweist, wenn man ihn zur Zahlung zwingt: in seiner Lage wird er sich nicht lange verfolgen lassen. Sollte Ihr geehrter Herr Schwager nicht zahlen, so würde ich mich auf die Loyalität Ihres alten Hauses verlassen und zeichne wie immer
    Hochachtungsvoll ergebenst Métivier.«
     
    »Ganz gut«, sagte Eva zu David. »Mein Bruder wird aus diesem Verfahren entnehmen, daß wir nicht zahlen konnten.«
    Von welcher Wandlung in Eva sprach dieser Satz! Die wachsende Liebe, die ihr Davids Charakter, den sie immer besser kennenlernte, einflößte, nahm in ihrem Herzen die Stelle der Liebe zu ihrem Bruder ein. Aber von wie viel Illusionen nahm sie damit Abschied!
    Verfolgen wir nunmehr den ganzen Weg, den die Rückrechnung auf dem Platz von Paris machte. Ein dritter Inhaber, das heißt, wer den Wechsel durch Übertragung in Besitz hat, hat auf Grund des Gesetzes das Recht, von den verschiedenen Giranten dieses Wechsels lediglich gegen den vorzugehen, der ihm die Aussicht bietet, am schnellsten zu zahlen. Auf Grund dieser Gesetzesbestimmung ging der Gerichtsvollzieher des Herrn Métivier gegen Lucien vor. Man höre nur die einzelnen Phasen dieses übrigens völlig unnützen Vorgehens. Métivier, hinter dem die Cointet steckten, kannte die Zahlungsunfähigkeit Luciens; aber nach dem Geist des Gesetzes existiert die tatsächliche Zahlungsunfähigkeit rechtlich erst, nachdem sie festgestellt worden ist.
    Man stellte also die Unmöglichkeit, von Lucien die Bezahlung des Wechsels zu erlangen, auf folgende Weise fest. Der Gerichtsvollzieher von Métivier zeigte am fünften Mai Lucien die Rückrechnung und den Protest von Angoulême an und lud ihn vor das Handelsgericht von Paris, damit er eine Menge Dinge anhören sollte, unter anderen, er sollte als Kaufmann erklärt und als solcher zu Schuldhaft verurteilt werden. Als Lucien, der, wie wir wissen, in dieser Zeit das Leben eines gehetzten Hirsches führte, dieses unverständliche Zeug las, bekam er schon die Ausfertigung eines Versäumnisurteils, das gegen ihn vom Handelsgericht erlassen worden war. Coralie, seine Geliebte, die keine Ahnung hatte, um was es sich handelte, und glaubte, Lucien hätte seinem Schwager einen Gefallen erwiesen, hatte ihm alle die

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