Verlorene Illusionen (German Edition)
biß sich Frau von Bargeton vor Ärger auf die Lippen, denn die Marquise konnte einen Blick und ein Lächeln der Verwunderung nicht zurückhalten, die geringschätzig zu fragen schienen: »Woher kommt denn der junge Mann?« Louise fühlte sich in ihrer Liebe gedemütigt, und dieses Gefühl ist das peinlichste, das es für eine Französin gibt, und sie kann es ihrem Geliebten nie verzeihen. In dieser Welt, wo die Kleinigkeiten von großer Bedeutung sind, kann eine Bewegung oder ein Wort einen Anfänger ruinieren. Das Hauptverdienst der guten Manieren und des guten Tons der vornehmen Gesellschaft besteht darin, daß sie ein harmonisches Ganzes bilden, in dem nichts Anstoß erregen kann. Selbst solche Menschen, die infolge von Unkenntnis oder infolge irgendeiner Gedankenlosigkeit die Gesetze dieser Wissenschaft nicht befolgen, begreifen alle, daß in dieser Sache eine einzige Dissonanz, wie in der Musik, eine vollständige Verwirrung der Kunst selbst ist; denn wenn sie überhaupt bestehen soll, müssen alle ihre Bedingungen, auch in der geringsten Kleinigkeit, ausgeführt werden.
»Wer ist der Herr?« fragte die Marquise und blickte nach Châtelet. »Kennen Sie denn Frau von Sérizy schon?«
»Ah! das ist die berühmte Frau von Sérizy, die so viele Abenteuer gehabt hat und trotzdem überall empfangen wird!«
»Eine unerhörte Sache, meine Liebe,« antwortete die Marquise, »eine erklärliche, aber noch nicht erklärte Sache! Die einflußreichsten Männer sind ihre Freunde, und warum? Niemand wagt dieses Geheimnis zu ergründen. – Der Herr ist wohl der Löwe von Angoulême?«
»Aber der Baron du Châtelet«, sagte Anaïs, die ihrem Anbeter aus Eitelkeit in Paris den Titel gab, den sie ihm sonst abstritt, »ist ein Mann, der viel von sich reden gemacht hat. Er war der Reisegefährte des Herrn von Montriveau.«
»Ah!« sagte die Marquise. »Wenn ich diesen Namen höre, muß ich immer an die arme Herzogin von Langeais denken, die wie eine Sternschnuppe verschwunden ist. – Dort«, fuhr sie fort und zeigte nach einer Loge, »ist Herr von Rastignac und Frau von Nucingen. Sie ist die Frau eines Lieferanten, eines Bankiers, eines Spekulanten, eines Trödlers en gros, der sich der vornehmen Welt von Paris mit Hilfe seines Vermögens aufgedrängt hat; man sagt, er mache sich wenig Skrupel über die Mittel, es zu vergrößern; er gibt sich die größte Mühe, seine Treue für die Bourbonen zu beweisen, er hat schon versucht, bei mir Zutritt zu erlangen. Seine Frau hat sich jedenfalls gedacht, wenn sie die Loge der Frau von Langeais nähme, bekäme sie auch ihre Anmut, ihren Geist und Erfolg! Immer die alte Fabel von dem häßlichen Vogel, der sich mit Pfauenfedern schmückt!«
»Wie machen es Herr und Frau von Rastignac, von denen wir wissen, daß sie keine tausend Taler Einkommen haben, daß ihr Sohn in Paris leben kann?« fragte Lucien Frau von Bargeton, verwundert über die Eleganz und den Luxus, den die Kleidung des jungen Mannes zur Schau trug.
»Man sieht leicht, daß Sie aus Angoulême kommen«, antwortete die Marquise recht ironisch, ohne ihr Opernglas von den Augen zu nehmen.
Lucien verstand nicht, er überließ sich ganz dem Anblick der Logen und bemühte sich, die Urteile zu erraten, die dort über Frau von Bargeton gefällt wurden, und die Neugier, deren Gegenstand er selbst war. Louise ihrerseits war höchlich erstaunt, daß die Marquise von Luciens Schönheit einen so geringen Eindruck bekommen zu haben schien. »Er ist also nicht so schön, wie ich glaubte«, sagte sie sich.
Von da bis zu der Meinung, er sei auch weniger begabt, war nur noch ein Schritt. Der Vorhang war gefallen. Châtelet, der der Herzogin von Carigliano, deren Loge neben der von Madame d'Espard lag, einen Besuch machte, grüßte von dort aus Frau von Bargeton, die mit einer Neigung des Kopfes dankte. Eine Frau von Welt sieht alles, und so bemerkte die Marquise die auffallend vornehme Erscheinung Châtelets. In diesem Augenblick betraten nacheinander vier Personen die Loge der Marquise, vier Pariser Berühmtheiten.
Der erste war Herr von Marsay. Dieser Mann war berühmt durch die Leidenschaften, die er hervorrief; er fiel besonders durch eine mädchenhafte, weichliche, weibische Schönheit auf, die aber durch einen festen, ruhigen Blick gehoben wurde, der falsch und stechend wie der eines Tigers war; er wurde geliebt und gefürchtet. Lucien war ebenso schön; aber bei ihm war der Blick so sanft, sein blaues Auge war so hell, daß man
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