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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ist er bei der Marquise von Listomère, er macht Fortschritte, er betrachtet uns durch das Opernglas! Er kennt wohl den Herrn?« fügte der Dandy hinzu und wandte sich zu Lucien, ohne ihn anzusehen.
    »Es wäre unwahrscheinlich,« erwiderte Frau von Bargeton, »wenn der Name des großen Mannes, auf den wir stolz sind, nicht bis zu ihm gedrungen wäre: seine Schwester war jüngst dabei, wie Herr von Rubempré uns sehr schöne Gedichte vorlas.«
    Felix von Vandenesse und Herr von Marsay grüßten die Marquise und begaben sich in die Loge der Frau von Listomère, die die Schwester der Vandenesse war. Der zweite Akt begann, und man ließ Madame d'Espard, ihre Cousine und Lucien allein. Die einen begaben sich zu den Frauen, die neugierig waren, zu wissen, wer Frau von Bargeton war, und erklärten ihnen die Sache; die andern erzählten von der Ankunft des Dichters und machten sich über seinen Anzug lustig. Canalis begab sich in die Loge der Herzogin von Chaulieu zurück und kam nicht wieder. Lucien war glücklich über die Ablenkung von der Bühne her. Die Befürchtungen der Frau von Bargeton in bezug auf Lucien wurden durch die Beachtung gesteigert, die ihre Cousine dem Baron du Châtelet geschenkt hatte und die von ganz anderer Art war als ihre gönnerhafte Höflichkeit gegen Lucien. Während des zweiten Akts blieb die Loge der Frau von Listomère voller Leute, und es schien dort ein lebhaftes Gespräch im Gange, in dem es sich um Frau von Bargeton und Lucien handelte. Der junge Rastignac war offenbar der Spaßvogel dieser Loge, er rief das echt Pariser Lachen hervor, das sich jeden Tag einen neuen Gegenstand aussucht und es eilig hat, jedes Thema sofort zu erschöpfen und im Augenblick etwas Altes und Abgetanes daraus zu machen. Madame d'Espard war etwas unruhig, aber sie wußte, daß man die, die von einer Bosheit getroffen werden, nicht lange im unklaren darüber läßt, und wartete das Ende des Akts ab. Wenn die Gedanken und Gefühle sich der eigenen Person zugewendet haben, wie es bei Lucien und Frau von Bargeton der Fall war, geschehen in kurzer Zeit seltsame Dinge; die moralischen Umwälzungen vollziehen sich auf Grund von Gesetzen, deren Wirkung überaus rasch ist. Vor Louisens Gedächtnis standen die klugen, politischen Worte, die Châtelet ihr auf der Rückfahrt vom Vaudeville in bezug auf Lucien gesagt hatte. Jeder Satz war eine Prophezeiung, und Lucien ließ es sich angelegen sein, sie alle zu erfüllen. Der arme Junge, dessen Geschick ein wenig dem Jean Jacques Rousseaus glich, verlor seine Illusionen über Frau von Bargeton, wie sie die ihren über ihn verlor, und er glich seinem Vorbild insofern, daß er von Madame d'Espard bezaubert war und sich schnurstracks in sie verliebte. Junge Menschen oder Männer, die sich des Gefühlslebens ihrer Jugend erinnern, werden zugeben, daß diese plötzliche Liebe überaus naheliegend und natürlich war. Die entzückenden Manieren, die feine Sprache, die weiche Stimme, diese ganze so vornehme, so hochgestellte, so beneidete zarte Frau, diese Königin erschien dem Dichter, wie Frau von Bargeton ihm in Angoulême erschienen war. Die Beweglichkeit seines Charakters trieb ihn sofort an, sich diese hohe Gönnerschaft zu wünschen; das sicherste Mittel dazu war, das Weib zu besitzen, dann hätte er alles! Es war ihm in Angoulême geglückt, warum nicht ebenso in Paris? Unwillkürlich und trotz der Anziehungskraft der Oper, die etwas völlig Neues für ihn war, wandte sich sein Blick, wie magnetisch von dieser prächtigen Célimène angezogen, fortwährend ihr zu, und je mehr er sie ansah, um so mehr Lust bekam er, sie anzusehen! Frau von Bargeton fing einen dieser funkelnden Blicke Luciens auf; sie beobachtete ihn und sah, daß er mehr mit der Marquise als mit dem Vorgang auf der Bühne beschäftigt war. Sie hätte sich gut und gern damit abgefunden, wenn er sich um der fünfzig Töchter des Danaos willen nichts um sie gekümmert hätte; aber als ein Blick, der brennender, leidenschaftlicher und deutlicher war als die andern, ihr klarmachte, was in Luciens Herzen vorging, wurde sie eifersüchtig, freilich weniger für die Zukunft als für die Vergangenheit.
    »Er hat mich nie so angesehen«, dachte sie. »Mein Gott, Châtelet hat recht.«
    Jetzt erkannte sie den Irrtum ihrer Liebe. Wenn eine Frau dazu kommt, ihre Schwäche zu bereuen, fährt sie wie mit einem Schwamm über ihr Leben, um alles darin auszulöschen. Obwohl jeder Blick Luciens sie in Wut versetzte, blieb sie

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