Verlorene Liebe
ausstieß. Aber irgendwie wollte ihm das nicht gelingen. »Jerald, die Fäuste zu erheben, war noch nie eine Lösung. Wir haben ein zivilisiertes Gesellschaftssystem, und an dessen Regeln müssen wir uns halten.«
»Wir lenken doch dieses System!«
Der Junge warf den Kopf in den Nacken. Hayden konnte jetzt beim besten Willen nicht mehr die Augen vor dem Wahnsinn, ja der Tollheit im Blick seines Sohnes verschließen. Doch dann wurde die Miene Jeralds von einem Moment auf den anderen wieder klar, und Hayden gab sich der Überzeugung hin, sich alles nur eingebildet zu haben. »Ich habe ihm entgegnet, ich hätte überhaupt keine Lust, mich auf irgendeiner Veranstaltung von Pickelgesichtern herumzutreiben, um dort Punsch zu trinken und irgendwelchen Mädchen in die Bluse zu fassen. Da hat er angefangen zu lachen. Er hätte mich nicht auslachen dürfen. Und er meinte, vielleicht stünde ich ja gar nicht auf Mädchen.« Jerald kicherte schrill und wischte sich die Speicheltröpfchen aus den Mundwinkeln. »Da stand für mich fest, daß ich ihn töten würde. Ich sagte ihm, natürlich mag ich keine Mädchen, ich stehe mehr auf Frauen. Und dann habe ich ihm eins auf die Nase gegeben, daß das Blut über seine ganze häßliche Visage gespritzt ist. Damit nicht genug, hat er sich gleich noch eine eingefangen, und noch eine, und noch eine …« Jerald grinste immer breiter, während sein Vater blaß wurde. »Er hat die Schläge nicht deswegen abbekommen, weil er eifersüchtig auf mich war, sondern weil er mich ausgelacht hat. Du wärst stolz auf mich gewesen, wenn du gesehen hättest, wie ich ihn gezüchtigt habe.«
»Junge …«
»Ich hätte sie alle umbringen können. Wirklich, aber ich habe es nicht getan. Es wäre den Aufwand nicht wert gewesen, oder was meinst du?«
Für einen Moment glaubte Hayden, einem Fremden gegenüberzustehen. Aber nein, dies war sein Sohn, sein wohlerzogener, gut geratener Sprößling. »Jerald, ich begrüße es nicht, wenn du die Beherrschung verlierst, muß aber einräumen, daß so etwas uns allen einmal unterlaufen kann. Mir ist auch klar, daß wir Dinge tun oder sagen, die eigentlich nicht unsere Art sind, wenn man uns provoziert …«
Jeralds Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er liebte es, die volltönende Rednerstimme seines Vaters zu hören. »Ja, Sir.«
»Wight sagte, du hättest versucht, den Jungen zu erwürgen.«
»Tatsächlich?« Jeralds Augen waren für einen Moment leer, dann zuckte er mit den Achseln. »Na ja, dann war es sicher richtig so.«
Hayden entdeckte, daß er schwitzte. Seine Achselhöhlen waren schon ganz naß. Hatte er etwa Angst? Ach was, er war immerhin der Vater dieses jungen Mannes. Wovor sollte er sich da fürchten. »Ich nehme dich mit nach Hause.« Nur eine kleine Atempause, dachte er, als er Jerald aus dem Zimmer führte. Der Junge hatte in der letzten Zeit wirklich zuviel um die Ohren gehabt. Er brauchte jetzt dringend etwas Ruhe.
Grace seufzte, als das Telefon klingelte. Heute war sie zum ersten Mal dazu gekommen, wieder zu arbeiten. Richtig zu arbeiten. Stundenlang hatte sie sich von ihrer Fantasie treiben lassen und etwas zu Papier gebracht, auf das sie stolz sein konnte.
Insgeheim hatte sie befürchtet, nie wieder schreiben zu können; jedenfalls nicht über Mörder und Opfer. Doch als sie sich heute an den Schreibtisch gesetzt hatte, war ihr Talent bald zurückgekehrt. Anfangs noch zögerlich, aber dann mit Macht. Die Geschichte, an der sie arbeitete, hatte nichts mit Kathleen, sondern nur mit ihr selbst zu tun. Nur noch ein oder zwei Stunden, und sie hätte genug zustande gebracht, um ein Päckchen nach New York schicken und die Nervosität ihrer Redakteurin lindern zu können. Aber jetzt mußte dieses dumme Telefon läuten und sie in die Realität zurückholen. In die Wirklichkeit, in der Kathleen eine große Rolle spielte.
Grace hob ab und notierte sich die Nummer des Kunden. Nachdem sie sich eine Zigarette angezündet hatte, rief sie die Vermittlung an und ließ sich ein R-Gespräch mit dem Mann geben. »Hallo, Mike, was kann ich für dich tun?«
Was für ein Abend, dachte sie. Ed saß unten und spielte mit Ben Gin Rommé, während sie hier so tat, als sei sie ein Bauer auf einem Schachbrett und Sir Michael der schwarze Springer.
Eigentlich ein harmloser Gentleman. Die meisten Anrufer verlangten nichts Unmögliches von ihr. Viele von ihnen fühlten sich einsam und suchten nach jemandem, der ihnen etwas die Zeit vertrieb. Die Kunden
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