Verlorene Liebe
gut, daß man dann seine Eltern benachrichtigt hätte und sein Vater anfangen würde, Fragen zu stellen. So hatte er bis zum Schluß durchgehalten und ganz den ruhigen, wohlerzogenen und gescheiten Junge mit der klaren, deutlichen Stimme gegeben. Jerald verstand es so ausgezeichnet, sich seiner Umgebung anzupassen, daß keiner seiner Lehrer sonderlich auf ihn aufmerksam geworden wäre, hätte es sich bei ihm nicht um den Sohn des kommenden Präsidenten gehandelt.
Jerald vermied jedes Aufsehen, denn er mochte es nicht, wenn Menschen ihn beobachteten. Wenn sie ihn zu lange studierten, stießen sie womöglich auf eines seiner Geheimnisse.
Es kam nicht häufig vor, daß er sich schon tagsüber in die Leitung von Fantasy einklinkte. Die Dunkelheit der Nacht war ihm wesentlich lieber, denn dann konnte er sich die betreffende Frau viel besser vorstellen. Doch seit Desiree in sein Leben getreten war, hatte er kaum noch von seinem Hobby lassen können. Er setzte den Kopfhörer auf, schaltete das Terminal ein, lehnte sich zurück und wartete auf die richtige Stimme.
Jerald kannte die von Eileen. Sie interessierte ihn nicht, denn sie klang zu geschäftsmäßig. Und die von der anderen, die nachts die Anrufe entgegennahm, war ihm auch nicht recht. Deren Stimme klang zu jung und zu affektiert. Beiden Frauen gelang es nicht, ihn in irgendeiner Weise zu erregen.
Er schloß die Augen. Irgendwann würde er auf die Richtige stoßen, dessen war er sich absolut sicher. Und dann hörte er sie: Roxanne.
7. Kapitel
Hyazinthen. Grace hockte auf den Stufen vor dem Haus ihrer Schwester und betrachtete die weißen und rosafarbenen Blüten, die sich geöffnet hatten. Zu ihrer Erleichterung verbreiteten sie nur einen leichten Duft. Grace hatte für heute mehr als genug vom Blumengeruch. Die Hyazinthen sahen auch ganz anders aus als die Kränze, Gebinde und Sträuße. Kräftig und zuversichtlich erhoben sie sich neben dem rissigen Beton. Diese Pflanzen erinnerten sie nicht an Särge und Tränen.
Grace hatte es bei ihren Eltern nicht mehr ausgehalten. Obwohl sie sich dafür haßte, war sie zuvor aufgesprungen und hatte die beiden mit ihrem endlosen Händchenhalten und Teetrinken allein gelassen, weil sie dringend frische Luft, freien Himmel und Zeit für sich brauchte. Es mußte ihr gelingen, dem Kummer zu entkommen, sei es auch nur für eine Stunde.
Gelegentlich fuhr auf der Straße ein Auto vorbei, und dann blickte sie auf. Ein paar Nachbarskinder nutzten das schöne Wetter und die länger werdenden Tage, um auf den unebenen Bürgersteigen rad- oder Skateboard zu fahren. Ihr Vergnügen und ihre Rufe erinnerten an den Sommer, der bereits hinter der nächsten Ecke wartete. Hin und wieder starrte einer mit großen, runden und neugierigen Augen zum Haus hinüber. Grace sagte sich, daß mittlerweile alle in der Straße Bescheid wissen mußten, und wahrscheinlich hatten die Eltern bereits ihre Sprößlinge ermahnt, sich bloß nicht dem Grundstück zu nähern. Wenn Kathleens Haus lange genug leer stand, würden die Kinder sich gegenseitig anstacheln, den Garten zu betreten und sich bis zur Veranda zu wagen. Die Mutigsten unter ihnen würden sich vielleicht sogar getrauen, bis zu einem Fenster zu laufen und einen vorsichtigen Blick hineinzuwerfen.
Das verwunschene Haus. Das Mordhaus. Die Kinder würden feuchte Hände bekommen, und ihre Herzen würden schneller schlagen, wenn sie das Grundstück fluchtartig wieder verließen, um ihren weniger tapferen Freunden von ihrem Heldenstück zu berichten. Grace hatte zu ihrer Zeit genau das gleiche getan.
Morde besaßen eine unwiderstehliche Anziehungskraft.
Sie wußte, daß man in den ruhigen kleinen Häusern entlang der Straße bereits über die Bluttat redete und beschloß, neue Schlösser einzusetzen und jeden Abend doppelt zu überprüfen, ob alle Türen und Fenster fest verschlossen waren. Aber nach ein paar Wochen würde die allgemeine Wachsamkeit wieder nachlassen. Schließlich war der Mord ja nicht bei einem selbst, sondern ein paar Häuser weiter geschehen.
Aber Grace würde die Untat nie vergessen. Sie rieb sich die müden Augen. Nein, das konnte sie einfach nicht.
Als sie Eds Wagen erkannte, der gerade in die Ausfahrt einbog, atmete sie tief durch. Bis eben war ihr nicht klar gewesen, daß sie auf seine Rückkehr gewartet hatte. Grace erhob sich, lief über das Gras und erreichte ihn, als er gerade aus dem Auto stieg.
»Überstunden gemacht, Detective?«
»Läßt sich manchmal nicht
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