Verlorene Liebe
Hand an ihre Wange. Der Kontakt mit seiner Haut war unbeschreiblich schön. Sie wußte, daß sie solche Berührungen ebenso brauchte wie lange Phasen des Alleinseins. Doch in diesem Moment wollte sie nicht einmal daran denken, ohne Gesellschaft zu sein. »Waren Sie jemals in New York?«
»Bin leider noch nie so weit gekommen. Sie frieren ja«, murmelte er, als seine Fingerknöchel über ihr Gesicht strichen. »Sie hätten sich eine Jacke anziehen sollen.«
Grace lächelte und ließ seine Hand los. Doch sie blieb noch einen Moment auf ihrer Wange. Grace war immer ihrem Instinkt gefolgt und hatte sich sowohl mit den Niederlagen wie auch den angenehmen Seiten solchen Vorgehens abgefunden. Bevor er seine Hand zurückziehen konnte, schlang sie die Arme um ihn. »Das macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus, oder? Ich brauche jetzt einfach jemanden, der mir zeigt, daß ich noch lebe.«
Sie hob den Kopf und drückte sanft ihre Lippen auf die seinen.
Solide. Dieses Wort entstand in ihrem Bewußtsein.
Das hier war solide und greifbar. Sein Mund war warm, und er erwiderte den Druck ihrer Lippen. Er drängte nicht, nahm nicht vollkommen Besitz von ihr und versuchte auch nicht, sie mit irgendwelchen raffinierten Kußtechniken zu beeindrucken. Er küßte sie genau so wie sie ihn. Sein Bart war ihr wie ein weiches Kissen. Und als seine Finger sich gegen ihre Haut preßten, erregte sie das. Wie wunderbar es doch war, noch einmal erfahren zu dürfen, daß sie so etwas brauchte und auch annehmen konnte. Ja, in diesem Moment wußte sie, daß sie noch lebte. Ein wunderbares Gefühl.
Sie hatte ihn überrascht, aber er ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen, jedenfalls nicht lange. Schon seit geraumer Zeit wünschte er sich, Grace so zu halten und seine Finger durch ihre Haar wandern zu lassen. Die hereinbrechende Dämmerung brachte eine kühle Brise mit sich, und so zog er sie noch näher an sich heran, um ihr Wärme zu geben. Ed spürte, wie sich sein Puls beschleunigte und geradezu raste, als sie sich an ihn schmiegte.
Grace beendete den innigen Moment nur zögernd, weil sie von ihrer eigenen Reaktion wie gelähmt war. Er ließ sie los, auch wenn die wilde, romantische Vorstellung, sie hochzunehmen und in sein Haus zu tragen, sich noch lange in seinem Bewußtsein hielt.
»Danke«, brachte Grace schließlich hervor.
»Keine Ursache.«
Sie lachte, überrascht von ihrer Nervosität und entzückt über das, was seine Berührung in ihr ausgelöst hatte. »Ich glaube, ich lasse dich jetzt besser in Ruhe. Schließlich weiß ich doch, daß du auch nachts noch arbeitest.« Als er sie fragend ansah, ergänzte sie: »Ich sehe doch noch spät das Licht brennen.«
»Mit dem Badezimmer bin ich fast fertig. Fehlt eigentlich nur noch die Tapete.«
Grace warf einen Blick in seinen Kofferraum und entdeckte darin vier Zwanzig-Liter-Eimer Kleister. »Das reicht ja für einen ganzen Saal.«
»Den Kleister gab’s als Sonderangebot.«
»Meine Mutter würde dich sofort ins Herz schließen«, lächelte sie. »Ich gehe jetzt besser wieder ins Haus, sonst machen sie sich noch Sorgen um mich. Bis bald.«
»Bis morgen. Ich lade dich zum Abendbrot ein.«
»Einverstanden.« Sie lief los, blieb aber mitten auf dem Rasen stehen und drehte sich um: »Aber keinen Möhrensaft, bitte.«
Roxanne hieß eigentlich Mary. Insgeheim hatte sie ihren Eltern immer einen leisen Vorwurf daraus gemacht, bei der Namensgebung so wenig Fantasie bewiesen zu haben. Sie fragte sich oft, ob ihre Entwicklung mit einem exotischeren, klangvolleren oder frivoleren Namen anders verlaufen wäre.
Mary Grice war achtundzwanzig, alleinstehend und stark übergewichtig. Schon in ihrer Pubertät hatte sie Fett angesetzt und dafür gleich ihre Eltern verantwortlich gemacht. Das liege nur an den Fettgenen, pflegte ihre Mutter zu sagen. Und das war mindestens die halbe Wahrheit. Die volle lautete, daß die ganze Familie Grice dem Essen nicht wiederstehen konnte – und das war schon immer so gewesen. Nahrungsaufnahme bedeutete für sie so etwas wie eine religiöse Erfahrung, und alle drei – Moma, Poppy und Mary – waren in dieser Hinsicht tiefgläubig.
Mary war in einem Haus aufgewachsen, in dem die Speisekammer und der Kühlschrank stets gut gefüllt waren und nie Mangel an Chips, kleinen Leckereien oder Schokoladensirup herrschte. Das Mädchen hatte schon früh gelernt, aus Brotscheiben, Wurst und Käse Sandwichtürme von ungeahnter Höhe zu bauen, diese mit Mengen von
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