Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
glaube noch an die Moral“, sagte Pütz.
„Ist das nicht zu idealistisch?“
„Ich stehe auf altmodische Dinge.“
Winterhalter rückte sich in seinem Fahrersitz bequemer zurecht, damit er Pütz besser beobachten konnte.
„Darf ich ein Geheimnis preisgeben?“, fragte er.
„Bitte.“
„Ich bin achtundvierzig Jahre alt. Meine Vorstellungen, wie mein Leben auszusehen hat, sind in den letzten Jahren arg d urcheinander gewürfelt worden. Aber das ist ein anderes Thema. Meine Moralvorstellungen sind alt. So alt, wie ich bin. Und ich finde das gut so.“
Ihr Blick ruhte auf seinen Zügen. Sie glaubte, dass dieser Mund klare Worte von sich gab und dass sie diesen Worten sehr gerne folgte.
Sie wandte ihren Blick wieder von ihm.
„Ja, wir haben vieles gemeinsam.“
Er blickte kurz zu ihr herüber.
„Finden Sie?“
„Ja, das denke ich“, sagte Pütz und fand, dass nun genau der Moment gekommen war, Winterhalter die Frage zu stellen, die ihr die ganze Zeit im Kopf herumspukte, „Daher möchte ich Ihnen eine Frage stellen.“
„Nur zu.“
Sie zog mehrmals schnell die Luft ein durch die Nase. „Angenommen, Sie wären in meiner Position, was, würden Sie tun?“
„Wenn ich einen Herzinfarkt erlitten hätte und jetzt nicht wüsste, wie mein Leben weiter verlaufen kann?“
„Exakt.“ Sie kniff ihre Lippen zusammen.
„Ich würde mir vor allem viel Zeit lassen und gut nachdenken“, antwortete der Schweizer.
„Ich habe schon lange nachdenken können. Das Ergebnis ist noch unbefriedigend.“
„Wer sagt das denn?“
„Ich sage das.“
„Weil sie zu ungeduldig sind.“
„Und was wäre ihr primäres Ziel?“
„Am Leben zu bleiben. Alles andere findet sich.“
Du hast gut reden.
Dennoch, das war bereits der zweite Satz, den Winterhalter heute von sich gegeben hatte, den man sich ausdrucken und einrahmen konnte.
„Es gehört aber doch mehr zum Leben, als nur das reine Existieren.“
„Darf ich noch eine Weile darüber nachdenken?“, fragte er.
„Okay.“
Winterhalter hob die Hand von Lenkrad.
„Ich lasse Sie meine Antwort wissen, wenn ich etwas zu sagen habe. In Ordnung?“
Pütz nickte. Sie blickte aus dem Fenster und bemerkte, dass sie bereits den Ortseingang von Bad Elster erreicht hatten.
„Wir sind schon da. Tun Sie mir einen Gefallen? Ich brauche eine Stunde, um mit diesem Tag ins Reine zu kommen …“
„Ja, ich nehme Marie mit, wenn Sie das sagen wollten“, sagte Winterhalter und schaute auf die Uhr des Saab, „Haben Sie keinen Hunger? Wir könnten noch einen Happen essen, wenn sie mögen? Ich würde sie gegen neun Uhr abholen?“
„Sehr gerne“, antwortete Pütz und schon rollte der Saab über den Kies in der Auffahrt der Kurklinik. Marie streckte sich im Fußraum.
*
Plauen
Der Zeiger auf der Uhr rückte auf acht Uhr abends vor. Kommissar Streiter saß in seinem Büro, trank eine weitere Tasse frisch aufgebrühten Kaffee. Bartolomay saß in einer Zelle. Zwei Stockwerke tiefer. Der Kommissar rekapitulierte, was sie an diesem Tag erreicht hatten.
Nicht viel. Sie hatten eine Verhaftung vorzuweisen. Das war alles. Der Mann schwieg beharrlich. Seine einzige Bemerkung erinnerte ihn daran, dass sich dort draußen jemand befand, der dem alten Mann Angst einjagte. Sofern er die Wahrheit sagte.
Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mittsechziger die Kraft aufbrachte, eine junge Frau und einen stattlichen Mann zu töten? Mit bloßen Händen.
Sie ging gegen Null.
Also mussten sie davon ausgehen, dass Bartolomay die Wahrheit sagte. Doch solange er schwieg, waren ihnen die Hände gebunden.
Strei ter öffnete den Aktendeckel und holte die Tatortfotos hervor. Nachdenklich legte er eines der Fotos nach dem anderen auf den Tisch, nachdem er sie lange betrachtet hatte.
Das Problem war, dass er seinen Vorgesetzten langsam Ergebnisse vorlegen musste. Ganz abzusehen davon, dass ein Mörder weiter unerkannt sein Unwesen treiben konnte.
Die Frage war: Wie konnte man einen Mann, der aus Angst beharrlich schwieg, davon überzeugen, dass er endlich seinen Mund aufmachte.
Gegenfrage: Was hielt ihn davon ab, sich den Mann noch einmal vorzunehmen? Schmidt war schon auf dem Heimweg.
Langsam schob er die Fotos zusammen und legte sie wieder in die Mappe.
Fünf Minuten später gab er dem Beamten im Keller, der die Zellen bewachte, den Befehl, ihm die Zelle von Bartolomay zu öffnen. Er bemühte sich merklich, seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu
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