Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
sich.
Eine Viertelstunde später stand Carola Pütz vor der großen Holztüre der Klinik. Es war halb fünf, und bereits dämmerig. Bisher hatte sie noch keinen Eindruck von Bad Elster gewinnen können. Das wollte sie vor dem Abendessen noch ändern. Sie ging los. Ein kalter Wind empfing sie.
*
Die Innenstadt von Bad Elster, wenn man von einer Innenstadt sprechen konnte, war schnell durchwandert. Viele prächtige Bauten gab es zu bewundern. Dr. Pütz wollte in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, möglichst viel sehen. Daher rannte sie beinahe durch die Straßen. Nach ein er Weile fror sie nicht mehr. Ihre zuerst kalten Hände waren nun warm, und schon längst nicht mehr in den Taschen des Mantels vergraben. Wie von einem Magnet angezogen blieb sie vor einem Plakat stehen. Sie befand sich vor dem alten, hochehrwürdigen König-Albert-Theater. Dort wurde in einem Schaukasten eine Musikveranstaltung angekündigt. Für den zweiten Dezember, den ersten Advent in diesem Jahr, war ein Adventskonzert geplant. Das alleine sorgte noch nicht für die Verzückung bei ihr. Es war der Komponist, und vor allem das Musikstück, was gespielt werden würde, was bei ihr für feuchte Hände sorgte. Antonin Dvorák war der Komponist und es wurde seine 9. Symphonie gespielt, ‚Aus der neuen Welt‘.
Für einen Moment wollte sie sich nicht bewegen. Sie liebte Dvorák, sie liebte seine ‚Slawischen Tänze‘, und sie liebte seine 9. Symphonie. So seltsam war es sicher nicht, dass man hier nahe der tschechischen Grenze einen tschechischen Komponisten spielte. Doch war sie darüber völlig überrascht. Sie beugte sich nach vorne, um besser lesen zu können, um welches Orchester es sich handelte. Sie entzifferte es, doch sagte ihr der Name des Orchesters nichts. Es handelte sich um ein Ensemble aus Tschechien. Sie überlegte, wie lange es her war, dass sie das letzte Mal Dvorák gehört hatte.
Noch zusammen mit ihrem Ex-Ehemann, das war sicher schon fünf Jahre her. Ihr Kopf fühlte sich völlig leicht an. So sehr war sie in Vorfreude gefangen. Als sie in der Klinik ankam, fragte sie sofort nach, wo man sich die Karten für das Konzert sichern konnte.
Edith Kramke konnte sie beruhigen, indem sie ihr einen Zettel vor die Nase legte. Dort konnte sie sich eintragen, die Karten wurden vorbestellt und konnten an der Abendkasse abgeholt werden. Mit einem beschwingten Gefühl kam sie pünktlich um achtzehn Uhr im Speisesaal an. Ein seliges Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie Frau Schmitt-Wienand mitteilte, was sie soeben erfahren hatte. Zu ihrer großen Verwunderung konnte Frau Schmitt-Wienand ihre Begeisterung für Dvorák nicht teilen.
„Ich bin ein absoluter Wagner-Fan“, sagte sie, „Bayreuth, das ist für mich der Gipfel der Musikalität.“
Mit einer schnellen Bewegung ließ sie einen Stapel Wurst auf ihren Teller gleiten.
Wagner.
Wenn es einen deutschen Komponisten gab, den Dr. Pütz zutiefst verachtete, dann war es Wagner. In ihrem Kopf verknüpften sich sofort im Stechschritt marschierende Soldaten mit infernalischem Kriegsgetümmel, und sie sah Menschenmassen von blindem Gehorsam betäubt, im Berliner Olympiastadion einem kleinen Männlein aus Österreich zujubeln. Des deutschen Größenwahns musikalische Analogie. Das war Wagner für sie.
Doch konnte sie ihr das so nicht sagen.
„Wagner? Nun, da liegt unser Musikgeschmack ein wenig auseinander“, sagte sie mit einem Ton, dem man eigentlich seinen schaudernden Unterton anhören musste. Frau Schmitt-Wienand war allerdings so mit dem Befüllen ihres Tellers beschäftigt, dass sie den nicht bemerkte.
„Wie war denn ihr erster Tag, Dr. Pütz“, fragte sie, nachdem sich die beiden Frauen an ihren angestammten Platz gesetzt hatten.
„Wie war mein erster Tag? Stressig war er. Auf der Arbeit habe ich nicht so viele Termine“, antwortete sie.
„Das legt sich mit der Zeit. Werden Sie noch sehen, meine Liebe.“ Frau Schmitt-Wienand schien nicht bei der Sache. Auf dem Bauernbrot auf ihrem Teller stapelte sie grünen Salat, Käse, mehrere Scheiben Salami, und krönte das Ganze mit einer Spreewaldgurke. Der erste Bissen landete in ihrem Mund.
Dr. Pütz hatte sich für eine warme Variante des Abendessens entschieden. Auf einer noch dampfenden Folienkartoffel lag eine riesige Menge Quark mit frischen Kräutern. Daneben hatte sie sich ein paar Scheiben selbst gebackenes Brot mit Kräuterbutter gelegt. In dem Moment gesellte sich Krawuttke an ihren Tisch.
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