Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
frei. Dabei fiel ihr Blick auf die Narbe in ihrer Handfläche. Eine bleibende Erinnerung an den Tag, der ihr Leben so schicksalhaft verändert hatte. Als sie in Bonn für ihre Kollegin Dr. Beisiegel eine forensische Zeichnung anfertigte, hatte sie die bislang schlimmste Zählattacke erlitten. Sie rettete sich in völlige Dunkelheit. Dabei hatte sie aus Wut über ihre körperliche Verfassung einen Instrumentenwagen umgestoßen. Im Dunkeln nach einem Skalpell tastend, hatte sie sich die Handfläche aufgeschnitten.
Sie hielt nun inne und sah sich etwas verwirrt im Spiegel an. War das eine Erinnerung aus ihrem Leben? Wirklich. Ihre eigene Erinnerung? Wäre nicht die Narbe auf ihrer Hand als Beweis, sie hätte es als Bild aus einem Roman halten können. Sie nahm sich ein Handtuch und wischte den Spiegel blank. Carola Pütz dachte schnell nach. Diese Narbe würde sie immer an diesen Tag erinnern. Es gab keine Alternative. Überhaupt keine. So einfach war das Leben manchmal.
Sie legte das Handtuch zurück, und begann sich zu schminken. Was sie auch selten tat. Carola Pütz hatte eine natürliche Schönheit. Sie trug etwas Rouge auf ihre hohen Wangenknochen, die ihr einen leicht slawischen Einschlag gaben. Dabei hatte sie keine Wurzeln im Osten. Ihre Eltern kamen aus dem Rheinland, waren dann später aus beruflichen Gründen ins Rhein-Main-Gebiet gezogen. Nach ihrem Studium hatte sie an verschiedenen Orten gelebt, um nach ihrer Heirat wieder in Frankfurt ansässig zu werden. Nachdem sich ihr Mann von ihr trennte, hatte sie überlegt, von Frankfurt wegzuziehen. Weil sie sich doch sehr ihrer Universität angehörig fühlte, blieb sie in Frankfurt. Durch ihre Lehrtätigkeit und die häufigen Vortragsreisen hatte sie genug Zerstreuung. Die Villa, in der sie zusammen mit ihrem Mann gewohnt hatte, wurde verkauft. Sie war verletzt durch die Zurückweisung durch den Mann, mit dem sie beinahe zwanzig Jahre zusammengelebt hatte. Sie bezog eine Eigentumswohnung, stürzte sich mehr noch als sonst in die Arbeit.
Ab und zu hatte sie sich sogar eine Auszeit genommen. Nicht oft genug, wie sie nun leidvoll erfahren musste.
Fang jetzt nicht an, frustig zu werden.
S ie sprach laut vor sich hin, lächelte.
Und bitte auch keine Selbstgespräche.
Wie sie feststellen musste, hatte ihr Abendkleid sehr gelitten. Obwohl sie es in einem Kleiderschutzbeutel gelagert hatte. Sie hängte es auf einen Bügel und strich die entstandenen Falten mit der Hand glatt. Das klappte nicht. Sie griff zum Telefon und fragte an der Rezeption nach, ob sie das Kleid zum Bügeln abgeben könnte. »Aber selbstverständlich«, erhielt sie als Antwort. Sie legte es sich über den Arm und machte sich auf den Weg zum Empfang.
Der Schneefall hatte nachgelassen. Als sie den Gang durchquerte, fiel es ihr auf. Draußen war der Hausmeister damit beschäftigt, die Wege mit einem Fahrzeug vom Schnee zu befreien. Sie hielt kurz inne und sah, wie er den Schnee zu einem großen Haufen auftürmte. Das Fahrzeug sah aus wie ein kleiner Bagger, vorne mit einer Schaufel versehen.
Nachdem man ihr am Empfang versichert hatte, sie könne ihr Kleid am späten Abend schon wieder abholen, ging sie zum Speisesaal herüber. Warum auch immer. Vielleicht, weil die Türe einen Spalt offenstand. Es war noch viel zu früh für das Abendessen. Selbst die Angestellten waren noch nicht mit den Vorbereitungen Zugange.
Sie öffnete die Türe und ging hinein. Ohne Menschen hatte der Speisesaal etwas von einem Theatersaal. Stellte man die Bestuhlung anders auf und entfernte die Tische, so hatte man ein wunderbares Auditorium. Die großen Kristalllüster, in Verbindung mit der hohen Decke, verliehen dem Speisesaal den Touch eines ehrwürdigen Theaters. Sie stellte sich gerade vor, wie auf der Bühne ein Theaterstück aufgeführt wurde, als sie Stimmen hörte. Die Stimmen kamen aus einem kleinen Raum, der sich rechts neben der Bühne befand. Dort stand ebenfalls die Türe offen. Carola Pütz ging neugierig näher. Die Stimmen klangen aufgeregt, waren aber trotzdem gedämpft. Es klang wie ein Streitgespräch.
Sie stieg leise die Stufen zur Bühne hoch und auf Zehenspitzen näher an die Türe heran. Siebzehn Parkettfliesen bis zur Türe, zehn Parkettfliesen bis zur Türe. Sie blieb stehen, lauschte.
„Wir müssen vorsichtig sein. Jetzt wo die Polizei hier herumschnüffelt, können wir nicht so weiter machen“, flüsterte die eine Stimme. Weiblich.
„Ich habe meine Aufträge, ich kann jetzt nicht
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