Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
beobachtete ihre Mutter, wie sie einige Schnitten Brot von dem großen Laib abschnitt. Ihr Blick war nicht mehr so offen und vertrauensvoll, wie noch ein paar Tage zuvor. Sie zögerte, ihre Mutter offen anzusehen.
„Was ist los, Eliska?“ Bist Du krank?“
Das Mädchen schüttelte nur den Kopf und nahm ihre Tasse mit warmer Milch in die Hand.
„Was ist los? Bist Du über Nacht stumm geworden?“ Die Stimme klang genervt. Es waren die ersten Worte, die sie als Mutter mit ihrer Tochter wechselte. Nachdem das Treffen mit dem Freier eine so peinliche Wendung genommen hatte. Für sie.
Nachdem Eliska ihr Versteck verlassen hatte, setzte sie sich auf die Treppe vor der Wohnungstüre und wartete darauf, dass jemand die Haustür öffnete. Es war ihre Hoffnung, dass es nicht ihre Mutter sein würde, sondern ihr Bruder oder ihre Schwester. Doch ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt. Eliska schwante nichts Gutes. Sie sollte recht behalten.
Nach einer Tracht Prügel wurde sie im Zimmer der Kinder eingesperrt. Das Kind wusste nicht, was sie mehr schmerzte: das Brennen auf ihrem Popo oder die Tatsache, dass aus ihrer Mutter eine Fremde geworden war. Eine Fremde, deren Motivation ihr plötzlich völlig unklar war.
Nach der letzten Nacht hatte sie eine kleine Ahnung, was ihre Mutter von ihr verlangte. Tereza und Matej hatten ihr erzählt, was sie machten, wen sie nachmittags aus dem Haus gingen. Sie hatten Worte gewählt, die ein Kind verstehen würde. Dennoch war Eliska geschockt.
Sie betrachtete ihre Schwester prüfend. Sie hatte ihr erzählt, dass sie und ihr Bruder Sex mit Männern hatten.
Sex.
Das Wort hatte für das Kind keine Bedeutung. Sie war von ihrer Mutter noch nicht aufgeklärt worden. Tereza wollte ihrer kleinen Schwester Details ersparen. Doch die fragte mit der Unschuld einer neunjährigen genau nach diesen Details.
„Was musst Du denn mit diesen Männern tun?“ Eliska konnte hören, wie ihre Schwester in der Dunkelheit des Zimmers schwer atmete.
„Sag schon! Los, ich will es mir vorstellen.“
Die Fünfzehnjährige überlegte lange, wie sie ihrer kleinen Schwester erklären sollte, was eine jugendliche Prostituierte tat. Ihr Blick wanderte herüber zu ihrem Bruder, der mit angewinkelten Beinen auf ihrem Bett kauerte. Er blieb stumm.
„Sie wollen mit mir schlafen.“
„Achso, das ist aber doch nicht so schlimm. Aber bist Du denn nachmittags schon müde genug?“, fragte Eliska erleichtert.
Tereza war der Verzweiflung nahe. Wie sollte sie das nur erklären?
Schlafen war nicht das Schlafen , was sich Eliska vorstellte.
„Nein, meine Kleine. Man nennt es so. Es hat nichts mit dem Schlafen in der Nacht zu tun.“
„Warum nennt man es dann so? Das ist doch dumm.“
„Da hast Du Recht, Eliska. Die Erwachsenen haben viele Worte für diese Tätigkeit.“
„Was ist es dann?“ Eliska wurde ungeduldig. Tereza verzweifelte immer mehr.
„Du, Matej und ich sind so entstanden. Die Erwachsenen schlafen miteinander und daraus entstehen die Kinder.“
Eliska schaute erstaunt zu ihrer Schwester herüber. „Bekommst Du jetzt auch Kinder? Du bist doch noch so jung. Kann Matej auch Kinder bekommen?“
Eigentlich war Tereza erleichtert, dass sie einen so einfachen Weg für die Erklärung gefunden hatte. Doch diese Frage schaffte eine neue Klippe. Wie sollte sie ihrer Schwester die homophilen Neigungen erklären, die ihr Bruder ständig ertragen musste?
Tereza zögerte.
„Nein, Kleines. Ich kann keine Kinder bekommen. Nur Frauen bekommen Kinder“, antwortete stattdessen ihr Bruder.
„Warum schlafen die Männer dann mit Dir?“ Eine völlig logische Frage für ein Kind.
„Bei mir sind es Frauen“, log Mate j, um weitere Nachfragen im Keim zu ersticken.
„Macht es denn Spaß?“
Eliska beugte sich nach vorne und wickelte ihre Füße wieder unter die Decke.
Die Geschwister schwiegen erneut. Wieder suchte Tereza den Blick ihres Bruders. Doch konnte sie ihn in der Dunkelheit des Zimmers wieder nicht finden.
„Nein, es macht keinen Spaß. Die Männer und die Frauen wollen oft Dinge von uns, die nicht schön sind.“
„Mama weiß das?“ Ungläubig starrte Eliska ins Dunkel.
„Ja“, antwortete ihre Schwester knapp.
„Aber warum lässt Mama es zu, wenn es euch keinen Spaß macht?“
„Weil wir arm sind.“
Im Kopf der Kleinen fuhren die neuen Erkenntnisse Karussell. Ihre Geschwister machten Dinge mit Erwachsenen, die ihnen keinen Spaß machten. Und alles nur, weil sie arm waren. Ihre Mutter
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