Verlorene Seelen
miteinander vereint. Jetzt muß ich für sie Sühne leisten, damit wir nach dem Tod wieder vereint werden können. Jetzt verstehen Sie das alles. Sie sind gekommen. Ihre Seele wird sich zu den anderen gesellen.
Ich werde Ihnen im Namen des Herrn Absolution
erteilen.«
»Sie können nicht noch jemanden umbringen. Das würde Laura nicht wollen.«
Er schwieg … drei, vier, fünf Sekunden lang. »Ich dachte, Sie hätten alles verstanden.«
Am vorwurfsvollen Ton seiner Stimme erkannte Tess, daß er sich verraten fühlte. Gleich würde er auflegen. »Ich denke, das habe ich auch. Wenn nicht, müßten Sie mir 292
alles näher erklären. Ich will ja alles verstehen, und ich möchte, daß Sie mir dabei helfen. Deswegen möchte ich ja zu Ihnen kommen und mit Ihnen sprechen.«
»Nein, das sind alles Lügen. Sie sind von Sünde und Lügen erfüllt.« Sie hörte, wie er anfing, das Vaterunser zu murmeln, bevor er auflegte.
Als Ben ins Dezernat zurückkam, stand Lowenstein gerade neben ihrem Schreibtisch und telefonierte. Um die Hände frei zu haben, hatte sie sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Als sie ihn sah, winkte sie ihn zu sich heran.
»Sie kann einfach nicht ohne mich leben«, sagte Ben zu Ed. Er streckte den Arm aus, als wolle er ihn ihr um die Taille legen. In Wirklichkeit langte er jedoch nach der Tüte mit Schokorosinen, die auf ihrem Schreibtisch lag.
»Er hat Court wieder angerufen«, sagte Lowenstein.
Bens Hand erstarrte mitten in der Bewegung.
»Wann?«
»Der Anruf wurde um elf Uhr einundzwanzig
durchgestellt.«
»Konnten sie ihn zurückverfolgen?«
»Ja.« Sie nahm einen Notizblock vom Schreibtisch und gab ihn Ben. »Er kam aus diesem Bereich von einem Apparat innerhalb dieser vier Blocks. Goldman sagt, sie hat ihre Sache sehr gut gemacht.«
»Mensch, in der Gegend waren wir doch gerade!« Ben schmiß den Notizblock auf ihren Schreibtisch. »Vielleicht sind wir sogar an ihm vorbeigefahren.«
»Der Captain hat Bigsby, Mullendore und ein paar Uniformierte losgeschickt, um das Gebiet zu
durchkämmen und nach Zeugen zu suchen.«
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»Dabei werden wir ihnen helfen.«
»Ben. Warte doch mal, Ben.« Er blieb stehen und drehte sich voller Ungeduld um. Lowenstein preßte sich die Sprechmuschel des Hörers gegen die Schulter. »Sie schicken dem Captain eine Mitschrift des Gesprächs. Ich glaube, du solltest sie dir ansehen.«
»Prima. Die lese ich, wenn ich zurückkomme.«
»Ich glaube, du solltest sie gleich lesen, Ben.«
Ein paar Stunden Arbeit in der Donnerly Clinic reichten aus, um Tess von ihrer Aufgewühltheit abzulenken. Das Spektrum der dortigen Patienten reichte von manisch-depressiven Geschäftsleuten bis zu Junkies, die eine Entziehungskur machten. Einmal in der Woche – wenn es ihr Terminkalender erlaubte, auch zweimal – fuhr sie in die Klinik, um die Ärzte bei ihrer Arbeit zu unterstützen.
Manche der Patienten sah sie nur ein- oder zweimal, andere wiederum Woche für Woche, Monat für Monat.
Sie war dort, soweit es ihre Zeit gestattete, unentgeltlich tätig, da es kein Elitekrankenhaus war, in das sich reiche Leute begaben, wenn sie mit ihren Problemen oder Süchten nicht mehr fertig wurden. Andererseits war es auch keine von Idealisten mit wenig Geld betriebene Klinik für Gestrauchelte, sondern eine leistungsfähige Einrichtung, die Gemüts- und Geisteskranke aus allen sozialen Schichten aufnahm.
Im zweiten Stock gab es zum Beispiel eine Frau, die an der Alzheimerschen Krankheit litt und Puppen für ihre Enkelkinder nähte, mit denen sie dann selbst spielte, weil sie inzwischen vergessen hatte, daß sie Enkelkinder besaß.
Dann war da ein Mann, ein harmloser Mensch, der sich für John F. Kennedy hielt und den größten Teil des Tages damit verbrachte, Reden zu schreiben. Die zu
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Gewalttätigkeit neigenden Patienten waren im dritten Stock in Verwahrung, wo die Sicherheitsvorkehrungen waren. Die Türen aus dickem Glas waren immer
verschlossen, die Fenster vergittert.
Tess verbrachte dort den größten Teil des Nachmittags.
Gegen fünf war sie ziemlich ausgelaugt. Fast eine Stunde lang hatte sie sich mit einem schizophrenen Paranoiker befaßt, der ihr zunächst Obszönitäten ins Gesicht geschleudert und dann mit seinem Essenstablett nach ihr geworfen hatte, bis er schließlich von zwei
Krankenpflegern gebändigt worden war. Tess hatte ihm ein Sedativ gespritzt, wenn auch nicht ohne Bedauern. Er würde für den Rest seines Lebens
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