Verlorene Seelen
medikamentös
behandelt werden.
Als er ruhiggestellt war, verließ ihn Tess, um sich ein paar Minuten im Aufenthaltsraum für das
Krankenhauspersonal zu entspannen. Sie mußte sich noch um einen weiteren Patienten kümmern: Lydia Woods, eine siebenunddreißig Jahre alte Frau, die einen Haushalt mit drei Kindern geführt und einen Fulltime-Job als Börsenmaklerin ausgeübt hatte und außerdem Präsidentin des Elternvereins gewesen war. Sie hatte
Feinschmeckermahlzeiten gekocht, hatte jeder
Veranstaltung an der Schule beigewohnt und war zur Geschäftsfrau des Jahres gekürt worden. Die neue Frau, die es schaffte, alles zu haben und damit fertig zu werden.
Vor zwei Monaten war sie bei einer Schulaufführung unter Krämpfen und Zuckungen zusammengebrochen, so daß viele der entsetzten Eltern angenommen hatten, sie leide an Epilepsie. Nachdem sie ins Krankenhaus gebracht worden war, hatte man festgestellt, daß sie an Entzugserscheinungen litt, die so gravierend waren wie die eines entziehenden Heroinsüchtigen.
Lydia Woods hatte ihre perfekte Welt mit Valium und 295
Alkohol aufrechterhalten, bis ihr Mann schließlich mit Scheidung drohte. Um zu beweisen, wie stark sie innerlich war, hatte sie abrupt aufgehört, Tabletten zu nehmen und Alkohol zu trinken, und alle physischen Reaktionen ignoriert – ein verzweifelter Versuch, ihr Leben so, wie sie es eingerichtet hatte, weiterzuführen.
Jetzt, nachdem die physischen Beschwerden beseitigt worden waren, zwang man sie, sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen.
Tess fuhr mit dem Fahrstuhl in den ersten Stock hinunter, wo sie sich Lydias Patientenakte holte. Nachdem sie diese studiert hatte, klemmte sie sich den Hefter unter den Arm. Ihr Zimmer war am Ende des Ganges. Lydia hatte die Tür aufstehen lassen, aber trotzdem klopfte Tess, bevor sie eintrat.
Die Vorhänge waren zugezogen, das Zimmer lag im Halbdunkel. Neben dem Bett standen Blumen, rosa Nelken, die einen leichten, süßen und hoffnungsvollen Duft verströmten. Lydia lag zusammengerollt im Bett, mit dem Gesicht zur nackten Wand. Sie reagierte in keiner Weise auf Tess’ Anwesenheit.
»Hallo, Lydia.« Tess legte die Akte auf ein Tischchen und sah sich im Zimmer um. Die Kleidung, die Lydia am Tag zuvor getragen hatte, lag unordentlich in einer Ecke.
»Hier drinnen ist es aber dunkel«, sagte sie und ging zum Vorhang.
»Ich mag es, wenn es dunkel ist.«
Tess warf einen Blick auf die im Bett liegende Gestalt.
Es war Zeit, etwas energischer vorzugehen. »Ich nicht«, entgegnete sie und zog den Vorhang auf. Als sich das Licht ins Zimmer ergoß, drehte sich Lydia um und machte ein finsteres Gesicht. Ihr Haar war ungewaschen, und sie trug kein Make-up. Um ihren Mund lag ein verkniffener, 296
bitterer Ausdruck.
»Das ist mein Zimmer.«
»Richtig. Und nach allem, was ich höre, haben Sie zuviel Zeit allein darin verbracht.«
»Was, zum Teufel, soll man denn hier anfangen?
Zusammen mit all den Irren Körbe flechten?«
»Sie könnten ja mal einen Spaziergang durch den Krankenhauspark machen.« Tess setzte sich hin, rührte die Akte jedoch nicht an.
»Ich gehöre nicht hierher. Ich will nicht hier sein.«
»Es steht Ihnen jederzeit frei zu gehen.« Tess sah zu, wie sie sich aufsetzte und eine Zigarette anzündete. »Dies ist kein Gefängnis, Lydia.«
»Sie haben leicht reden.«
»Sie sind freiwillig hierhergekommen. Wenn Sie das Gefühl haben, soweit zu sein, wird man Sie sofort entlassen.«
Ohne etwas zu sagen, rauchte Lydia ihre Zigarette und brütete dumpf vor sich hin.
»Wie ich sehe, hat Sie Ihr Mann gestern besucht.«
Lydia warf einen Blick auf die Blumen und sah rasch wieder weg. »Und?«
»Wie war Ihnen dabei zumute?«
»Oh, großartig«, fauchte sie. »Ich fand es einfach wundervoll, daß er hierhergekommen ist, um mich in diesem Zustand zu sehen.« Sie packte ein Büschel ihres ungewaschenen Haars. »Ich habe ihm gesagt, daß er das nächste mal die Kinder mitbringen soll, damit sie sehen können, was für eine elende Hexe ihre Mutter ist.«
»Wußten Sie, daß er kommt?«
»Ja.«
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»Im Bad ist eine Dusche. Sie haben Shampoo und Make-up.«
»Waren Sie nicht diejenige, die gesagt hat, ich versteckte mich hinter einer Maske?«
»Rezeptpflichtige Medikamente und Alkohol als
Hilfsmittel zu benutzen ist etwas anderes, als sich die Mühe zu machen, für den eigenen Ehemann hübsch auszusehen. Sie wollten, daß er Sie so sieht, Lydia.
Warum? Damit Sie ihm leid tun? Damit er sich
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