Verlorene Seelen
Jalousien waren heruntergelassen, ein vergeblicher Versuch, die Fenster zu isolieren. Irgend jemand hatte ein Poster an die Wand geheftet, auf dem die Bürger Amerikas aufgefordert wurden, Energie zu sparen.
Tess saß an einem Tisch, und neben ihr hatte sich Ed auf einen Stuhl gefläzt. Sein Tee verströmte einen schwachen Jasminduft. Lowenstein hockte auf der Kante eines kleinen Schreibtisches und ließ lässig ein Bein hin und her baumeln. Bigsby saß zusammengesunken auf einem Stuhl, 310
im Schoß eine Großpackung Kleenex. Alle paar Minuten putzte er sich die gerötete Nase. Rodericks Grippe fesselte ihn ans Bett.
Harris stand neben einer grünen Tafel, auf der in einzelnen Kolumnen die Namen der Opfer mit allen dazugehörigen Details aufgeführt waren. An der Wand hing ein Stadtplan mit vier blauen Stecknadeln. Daneben befand sich ein Korkbrett, an das man
Schwarzweißfotografien der ermordeten Frauen geheftet hatte.
»Uns liegt allen eine Mitschrift der Anrufe vor, die Dr. Court erhalten hat.«
Mitschrift. Das hörte sich so kalt, so geschäftsmäßig an, fand sie. Schmerz und Leid waren aus Mitschriften nicht herauszuhören. »Captain Harris.« Tess schob ihre Unterlagen vor sich zurecht. »Ich habe Ihnen einen aktualisierten Bericht mitgebracht, der meine Diagnose enthält. Aber ich glaube, es könnte von Nutzen sein, wenn ich Ihnen und Ihren Beamten diese Anrufe erklären würde.«
Harris, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen dastand, nickte bloß. Der Bürgermeister, die Medien und der Polizeipräsident setzten ihm gewaltig zu.
Er wollte, daß es endlich vorbei war, damit er ein bißchen Zeit damit verbringen konnte, seine neue Enkeltochter zu bewundern. Als er sie hinter der Scheibe der
Säuglingsstation betrachtete, hatte er fast wieder daran geglaubt, daß das Leben auch positive Seiten hatte.
»Dieser Mann hat mich angerufen, weil er Angst hat, Angst vor sich selbst. Er hat sein Leben nicht mehr im Griff, vielmehr wird er von seiner Krankheit beherrscht.
Der letzte …« Automatisch richtete sich ihr Blick auf das Foto von Anne Reasoner. »Der letzte Mord gehörte nicht 311
zu seinem Plan.« Sie befeuchtete sich die Lippen. Als Ben hereinkam, blickte sie nur kurz in seine Richtung. »Er hat auf mich gewartet – ausdrücklich auf mich. Wir wissen nicht genau, wie er auf die anderen Opfer gekommen ist.
Im Falle von Barbara Clayton können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß es ein Zufall war. Ihr Auto hatte eine Panne. Er war in der Nähe. In meinem Fall ist das Ganze wesentlich komplizierter. Er kennt meinen Namen und mein Bild aus der Zeitung.«
Sie machte eine kurze Pause, da sie erwartete, daß Ben sich auf den Stuhl neben sie setzen würde. Statt dessen blieb er jedoch stehen und lehnte sich gegen die geschlossene Tür, so daß sich der Tisch zwischen ihnen befand.
»Dadurch wurde der rationale Teil seiner Persönlichkeit angesprochen, das heißt, der Teil, der dafür sorgt, daß er im täglichen Leben funktionstüchtig bleibt. Hier war jemand, der ihm helfen konnte, jemand, der ihn nicht kurzerhand verurteilt hat. Jemand, der behauptet, sein Leid zumindest teilweise zu verstehen. Jemand, der seiner Laura genügend ähnelt, um Gefühle der Liebe und totale Verzweiflung bei ihm auszulösen.
Ich glaube, man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß er in der Nacht von Anne Reasoners Ermordung auf mich gewartet hat, weil er mit mir reden, weil er mir erklären wollte, warum er zuvor … warum er zuvor das getan hat, wozu er sich getrieben fühlt. Auf der Grundlage Ihrer Ermittlungsergebnisse kann man, glaube ich, ebenfalls mit Sicherheit annehmen, daß er dieses Erklärungsbedürfnis bei keinem der anderen Opfer hatte.
Der Ihnen vorliegenden Mitschrift können Sie entnehmen, daß er mich immer wieder bittet, ihn zu verstehen. Ich bin im Moment so etwas wie ein Scharnier. Seine Tür geht nach beiden Seiten auf.« Sie legte die Handflächen 312
aneinander und bewegte sie hin und her, um zu
demonstrieren, was sie meinte. »Er bittet um Hilfe, doch dann wird er wieder von seiner Krankheit überwältigt, und er hat nur noch den Wunsch, das, was er begonnen hat, zu Ende zu bringen. Zwei weitere Opfer«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Beziehungsweise, nach seiner
Vorstellung, zwei weitere Seelen, die gerettet werden müssen. Ich und dann er selbst.«
Ed machte sich mit kleiner, sauberer Handschrift am Rande seiner Mitschrift Notizen. »Was würde ihn daran
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