Verlorene Seelen
Schmerz wimmerte sie leise im Schlaf. Überall tauchten Gänge auf und verwirrten sie, dennoch rannte sie geradeaus weiter, da sie wußte, daß sich irgendwo eine Tür befand. Sie mußte sie nur finden. Ihre Atemgeräusche hallten laut im Labyrinth wider. Jetzt waren die Wände mit Spiegeln 321
verkleidet, in denen unzählige Male ihr Bild zu sehen war.
Sie trug eine Aktentasche. Sie starrte sie verständnislos an, setzte sie jedoch nicht ab. Als die Aktentasche für eine Hand zu schwer wurde, schleppte sie sie mit beiden Händen und rannte weiter. Sie verlor das Gleichgewicht, streckte die Hand aus und stieß gegen einen Spiegel.
Keuchend sah sie auf. Aus dem Spiegel blickte ihr Anne Reasoner entgegen. Dann löste sich der Spiegel auf und wurde zu einem weiteren Gang.
Sie rannte geradeaus weiter. Obwohl ihr vom Gewicht der Aktentasche die Arme weh taten, schleppte sie diese weiter mit. In ihren Muskeln zog und brannte es. Dann sah sie die Tür. Fast schluchzend vor Erleichterung schleppte sie sich darauf zu. Verschlossen. Verzweifelt suchte sie nach dem Schlüssel. Es gab immer einen Schlüssel. In dem Moment wurde der Türknauf langsam von der
anderen Seite gedreht.
»Ben.« Vor Erleichterung wurde ihr ganz schwach, und sie streckte ihm die Hand entgegen, damit er ihr helfen konnte, sich mit einem letzten Schritt in Sicherheit zu bringen. Doch die vor ihr stehende Gestalt war schwarz und weiß gekleidet.
Die schwarze Soutane, der weiße Kragen. Die weiße Seide des Humerales, das wie eine Perlenkette aussah. Sie war zu keiner Bewegung fähig, als es auf sie zukam und sich ihrem Hals näherte. Da fing sie an zu schreien.
»Tess. Tess, komm, Baby, wach auf.«
Nach Luft ringend faßte sie sich an den Hals, während sie versuchte, den Traum abzuschütteln.
»Entspann dich.« Seine aus der Dunkelheit kommende Stimme klang ruhig und besänftigend. »Atme tief durch und entspann dich. Ich bin direkt neben dir.«
Sie klammerte sich an Ben und preßte das Gesicht gegen 322
seine Schulter. Als seine Hände ihren Rücken auf und ab strichen, bemühte sie sich mit aller Kraft, sich auf sie zu konzentrieren und den Traum zu verdrängen.
»Entschuldige«, schaffte sie schließlich zu sagen, als sie wieder zu Atem gekommen war. »Ich hab’ bloß geträumt.
Entschuldige.«
»Muß ja ein herrlicher Traum gewesen sein.« Sanft strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. Ihre Haut war feuchtkalt. Ben zog die Bettdecke hoch und wickelte sie um sie. »Möchtest du darüber sprechen?«
»Ich bin nur überarbeitet.« Sie zog die Knie an und stützte die Ellbogen darauf.
»Möchtest du einen Schluck Wasser?«
»Ja, bitte.«
Sie rieb sich mit den Händen übers Gesicht, während sie im Badezimmer den Wasserhahn laufen hörte. Er ließ das Licht an, das durch die Tür hereinschien. »So, bitte sehr.
Hast du oft Alpträume?«
»Nein.« Sie trank in kleinen Schlucken, um ihre trockene Kehle anzufeuchten. »Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich manchmal welche. Dann kam jedesmal mein Großvater ins Zimmer, setzte sich zu mir und schlief schließlich im Sessel ein.«
»Nun, heute werde ich bei dir sitzen.« Nachdem er wieder ins Bett gekommen war, legte er den Arm um sie.
»Besser?«
»Ja, sehr. Ich komme mir ziemlich albern vor.«
»Würdest du nicht sagen, daß es psychologisch gesehen unter bestimmten Umständen heilsam ist, Angst zu haben?«
»Ja, würde ich wohl.« Sie ließ den Kopf auf seiner Schulter liegen. »Danke.«
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»Quält dich noch etwas anderes?«
Sie nahm einen letzten Schluck Wasser und stellte das Glas hin. »Ich habe mich bemüht, es mir nicht anmerken zu lassen.«
»Hat nicht geklappt. Worum geht es?«
Tess seufzte und starrte den Lichtstreifen auf dem Fußboden des Schlafzimmers an. »Ich habe einen Patienten. Oder hatte ihn jedenfalls. Einen
vierzehnjährigen Jungen. Alkoholiker, schwere
Depressionen, Neigung zum Selbstmord. Ich wollte, daß seine Eltern ihn in eine Klinik in Virginia geben.«
»Und sie halten nichts davon.«
»Nicht nur das. Heute ist er überhaupt nicht zur Sitzung gekommen. Ich hab’ angerufen. Die Mutter war am Apparat. Sie hat mir gesagt, sie sei der Ansicht, Joey mache gute Fortschritte. Über die Klinik wollte sie nicht sprechen, und was die Sitzungen angeht, brauche er mal eine Verschnaufpause. Ich kann nichts dagegen tun.
Nichts.«
Das hatte sie am meisten bedrückt. »Sie weigert sich einfach, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß er keine Fortschritte macht.
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