Verlorene Seelen
dem, was passiert ist.«
»Auch das weiß ich.« Sie stand auf und ging zum Fenster. Unten eilte eine Gruppe von Studenten über den Rasen, um pünktlich in die nächste Vorlesung zu kommen.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Selbstverständlich. Es ist mein Beruf, Antworten zu geben.«
»Macht es Ihnen etwas aus, daß dieser Mann vielleicht Priester ist oder mal einer war?«
»Sie meinen, in persönlicher Hinsicht, weil ich selbst Priester bin?« Um darüber nachzudenken, lehnte er sich zurück und legte die Hände im spitzen Winkel aneinander.
Als junger Mann hatte er innerhalb und außerhalb des Rings geboxt. Seine Knöchel waren dick und
breitgedrückt. »Ein gewisses Unbehagen kann ich nicht abstreiten. Die Vorstellung, daß der Mann Priester ist statt
– sagen wir mal – Computerprogammierer, macht die ganze Angelegenheit zweifellos wesentlich sensationeller.
Doch die schlichte Wahrheit ist, daß Priester keine Heiligen, sondern ebenso Menschen sind wie Klempner, Baseballspieler oder Psychiater.«
»Würden Sie ihn behandeln wollen, wenn man ihn schnappt?«
»Wenn man mich darum bittet«, sagte Logan langsam.
»Wenn ich der Ansicht wäre, daß ich von Nutzen sein könnte, dann vielleicht. Ich würde mich nicht verpflichtet 330
oder verantwortlich fühlen, wie es bei Ihnen offenbar der Fall ist.«
»Wissen Sie, je mehr Angst ich habe, desto wichtiger wird es für mich, ihm zu helfen.« Sie schaute wieder zum Fenster hinaus. »Letzte Nacht hatte ich einen Traum.
Einen ziemlich schrecklichen Traum. Ich hatte mich in einem Labyrinth von Gängen verirrt, die ich
entlangrannte. Obwohl ich wußte, daß ich träumte, hatte ich entsetzliche Angst. Die Wände wurden plötzlich zu Spiegeln, in denen ich mich unzählige Male selbst sah.«
Mechanisch berührte sie die Fensterscheibe, so wie sie im Traum die Hand nach dem Spiegel ausgestreckt hatte. »Ich trug meine Aktentasche. Eigentlich schleppte ich sie eher, weil sie so schwer war. Als ich in einen der Spiegel blickte, sah ich nicht mein Bild, sondern das Anne Reasoners. Dann verschwand sie, und ich rannte weiter.
Als nächstes war da eine Tür, durch die ich unbedingt gelangen mußte. Als ich sie erreichte, war sie verschlossen. Ich suchte verzweifelt nach dem Schlüssel, fand ihn aber nicht. Dann ging die Tür von selbst auf. Ich dachte, jetzt sei ich in Sicherheit. Ich dachte … und dann sah ich die Soutane und das Humerale.«
Sie drehte sich um, konnte sich jedoch nicht dazu entschließen, wieder Platz zu nehmen. »Oh, natürlich könnte ich mich hinsetzen und eine detaillierte und umfassende Analyse dieses Traums niederschreiben. Von meiner Angst, die Kontrolle über die Situation zu verlieren, meiner Überarbeitung und meiner Weigerung, in puncto Arbeit kürzerzutreten. Von meinen Schuldgefühlen gegenüber Anne Reasoner. Über meine Frustration, weil ich den Schlüssel zu diesem Fall nicht finden kann, und letzten Endes mein Versagen.«
Daß sie um ihr Leben fürchten mußte, hatte sie nicht erwähnt, was Logan für eine sehr interessante und 331
aufschlußreiche Auslassung hielt. Entweder sie brachte es noch nicht fertig, diesem Gefühl ins Auge zu sehen, oder sie verknüpfte die Möglichkeit, umgebracht zu werden, mit ihrer Furcht zu versagen.
»Sind Sie so sicher, daß Sie scheitern werden?«
»Ja, und ich hasse den bloßen Gedanken daran.« Bei diesem Eingeständnis lächelte sie verächtlich über sich selbst. Tess fuhr mit den Fingern über den Einband der alten Bibel und stellte fest, daß die Verzierungen tief in das eingeprägt waren und sich glatt anfühlten. »Hier drin steht etwas über Hochmut, der vor dem Fall kommt.«
»Ich neige zu der Ansicht, daß dies ganz von der Art des Hochmuts abhängt. Sie haben der Polizei so weit geholfen, wie eine Psychiaterin nur helfen kann, Tess. Sie haben nicht versagt.«
»Das habe ich noch nie, wissen Sie. Nicht im
eigentlichen Sinne. Nicht auf persönlicher Ebene. Ich war gut in der Schule und habe im Haus meines Großvaters perfekt die Gastgeberin gespielt, bis meine Praxis meine freie Zeit einschränkte. Was Männer betrifft, so habe ich nach einer kleineren Katastrophe im College immer dafür gesorgt, daß ich am längeren Hebel sitze. Alles war abgesichert und geordnet, bis … nun ja, bis vor ein paar Monaten.«
»Tess, soweit es diesen Fall betrifft, wurden Sie als Beraterin hinzugezogen. Den Mann zu finden ist Aufgabe der Polizei.«
»Vielleicht hätte ich es dabei
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