Verlorene Seelen
belassen sollen.
Vielleicht«, murmelte sie und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ganz sicher bin ich mir da nicht. Aber wie könnte ich das jetzt noch tun? Er hat sich an mich gewandt. Daß er mit mir gesprochen hat, war ein Akt der Verzweiflung, eine flehentliche Bitte. Wie könnte ich 332
mich dem entziehen? Kein Arzt könnte das.«
»Ihn später einmal zu behandeln ist nicht dasselbe, wie sich für die Folgen seiner Krankheit verantwortlich zu fühlen.« Ein besorgter Ausdruck trat in seine Augen, als er die Hände verschränkte und auf den Tisch legte.
»Wenn ich, ohne den Bericht gründlich gelesen zu haben, spontan eine Meinung äußern sollte, würde ich sagen, daß er sich zu Ihnen hingezogen fühlt, weil er Mitgefühl und eine gewisse Verletzlichkeit bei Ihnen spürt. Sie müssen darauf achten, von ersterem nicht soviel zu zeigen, daß Sie zweiterem zum Opfer fallen.«
»Es fällt mir schwer, bei diesem Fall die Regeln zu befolgen. Ben … Detective Paris … wollte, daß ich die Stadt verlasse. Als er den Vorschlag machte, habe ich kurz mit dem Gedanken gespielt, es zu tun. Ich steige einfach in ein Flugzeug, hab’ ich mir gedacht, und fliege nach …
was weiß ich … nach Mazatlan, und wenn ich
zurückkomme, ist all dies vorüber, und mein Leben wird wieder so problemlos und geordnet sein wie früher.« Sie machte eine Pause und erwiderte Logans ruhigen, geduldigen Blick.
»Dafür verachte ich mich.«
»Halten sie das nicht für eine ganz normale Reaktion auf die mit der Situation verbundene seelische Belastung?«
»Bei einem Patienten schon«, erwiderte sie und lächelte.
»Aber nicht bei mir.«
»Man kann den Perfektionismus auch übertreiben, Tess.«
»Ich rauche nicht, und ich trinke nur sehr wenig.« Sie setzte sich wieder hin. »Ich denke, ich habe das Recht auf ein Laster.«
»Ich lebe im Zölibat«, sagte Logan nachdenklich.
333
»Deshalb fühle ich mich vermutlich berechtigt, zu rauchen und zu trinken.« Er sah sie an und freute sich, daß sie entspannter wirkte. Eine Beichte war eine Wohltat für die Seele, das wußte er gut. »Sie bleiben also in Georgetown und arbeiten mit der Polizei zusammen. Wie fühlen Sie sich dabei?«
»Nervös«, antwortete sie unverzüglich. »Es bereitet einem Unbehagen, zu wissen, daß man die ganze Zeit von jemandem beobachtet wird. Ich meine nicht nur …« Mit einem Kopfschütteln brach sie mitten im Satz ab. »Ich weiß wirklich nicht recht, wie ich ihn nennen soll.«
»Die meisten Leute würden ihn einen Mörder nennen.«
»Ja, aber er ist auch ein Opfer. Jedenfalls ist es nicht nur das Wissen, daß er mich vielleicht beobachtet, was mir zu schaffen macht, sondern auch die Tatsache, daß die Polizei es tut. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, daß ich es genau richtig mache. Ich habe nicht gekniffen und bin nicht weggerannt. Ich will diesem Mann helfen, das ist für mich sehr wichtig geworden. Als ich ihm im Traum gegenüberstand, habe ich völlig die Nerven verloren.
Deshalb habe ich ihm und mir selbst gegenüber versagt.
Ich werde nicht zulassen, daß das in Wirklichkeit geschieht.«
»Davon bin ich überzeugt.« Logan nahm seinen
Brieföffner in die Hand und spielte damit herum. Er war alt und ziemlich zerschrammt, ein Andenken an eine Reise nach Irland, die er als junger Mann unternommen hatte. Er mochte den Brieföffner, so wie er viele törichte Dinge mochte. Obwohl er Tess nicht für töricht hielt, fing er an, sie ebenfalls zu mögen. »Tess, ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Ihnen rate, tatsächlich eine Weile wegzufahren, wenn all dies vorüber ist. Streß und Überarbeitung können selbst den Stärksten von uns kaputtmachen.«
334
»Ich nehme es Ihnen nicht übel, sondern betrachte es eher als Anordnung meines Arztes.«
»Braves Mädchen. Sagen Sie, wie geht es Ben?« Als sie ihn verständnislos anstarrte, lächelte er. »Ach, nun kommen Sie, selbst ein Priester merkt es, wenn eine Liebesgeschichte in der Luft liegt.«
»Vermutlich könnte man sagen, daß Ben ein weiteres Problem ist.«
»Liebesgeschichten sagt man ja nach, problematisch zu sein.« Er legte den Brieföffner wieder hin. »Sitzen sie diesmal auch am längeren Hebel, Tess?«
»Offensichtlich tut das keiner von uns beiden. Wir versuchen lediglich, uns zurechtzufinden. Er … ich glaube, daß wir viel füreinander empfinden. Wir sind bloß noch nicht soweit, einander auch zu vertrauen.«
»Vertrauen braucht Zeit, wenn es stabil sein
Weitere Kostenlose Bücher