Verlorene Seelen
soll. Ich habe ein paarmal mit ihm aus beruflichen Gründen gesprochen und einen feuchtfröhlichen Abend in einer kleinen Bar in der Innenstadt mit ihm verbracht.«
»Ach, tatsächlich? Davon hat er mir gar nichts erzählt.«
»Meine Liebe, kein Mann erzählt gern, daß er sich zusammen mit einem Priester hat vollaufen lassen. Wie dem auch sei – möchten sie meine Meinung über
Detective Paris hören?«
»Ja, gern.«
»Ich würde sagen, daß er ein sehr anständiger, zuverlässiger Mensch ist. Ein Mann, der wahrscheinlich einmal im Monat seine Mutter anruft, selbst wenn er es lieber nicht täte. Männer wie Ben halten sich nicht immer strikt an die Vorschriften, verletzen sie aber sehr selten, weil sie feste Strukturen zu schätzen wissen und begreifen, was es mit Recht und Gesetz auf sich hat. Tief in ihm 335
steckt ein Zorn, den er sich nicht anmerken läßt. Er hat sich nicht aus Gleichgültigkeit von der Kirche abgewandt, sondern weil er zu viele Mängel an ihr entdeckt hat. Er hat sich zwar von der Kirche abgewandt, meine liebe Tess, aber dennoch ist er vom Scheitel bis zur Sohle Katholik.«
Selbstzufrieden lehnte Tim sich zurück. »Sechzig-Sekunden-Analysen sind meine Spezialität.«
»Ich denke schon, daß Sie recht haben.« Sie zog einen Schnellhefter aus der Aktentasche. »Ich hoffe, damit haben Sie ebensoviel Glück. Captain Harris ist damit einverstanden, daß sie es lesen. Es ist mein auf den neuesten Stand gebrachter Bericht. Außerdem liegen die Mitschriften der Anrufe bei. Ich wäre dankbar für ein Wunder.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Danke, daß Sie mir zugehört haben.«
»Gern geschehen.« Er stand auf, um sie zur Tür zu begleiten. »Tess, rufen Sie mich an, falls Sie wieder Alpträume haben sollten. Es kann nie schaden, um ein bißchen Hilfe zu bitten.«
»Wo habe ich das bloß schon mal gehört?«
Logan sah ihr nach, als sie durch das Vorzimmer seines Büros ging. Dann schloß er die Tür.
Er beobachtete, wie sie aus dem Institutsgebäude kam. Es war gefährlich, ihr zu folgen, doch er wußte, daß die Zeit, vorsichtig zu sein, fast vorüber war. Sie blieb vor ihrem Auto stehen und suchte nach den Schlüsseln. Ihr Kopf war gesenkt, als bete sie. Der Drang wallte in ihm auf, bis ihm der Kopf dröhnte. Er tastete nach dem weißen Tuch in seiner Manteltasche. Die kühle weiche Seide beruhigte ihn. Tess steckte den Schlüssel ins Schloß der Autotür.
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Wenn er schnell genug war, entschlossen genug, konnte in wenigen Minuten alles vorüber sein. Während ihm das Herz bis zum Halse schlug, krampften sich seine Finger unablässig um das Humerale zusammen. Ein paar
verwelkte Blätter, trocken wie Staub, raschelten um seine Knöchel. Er sah, wie ihr der Wind Strähnen ihres Haars ins Gesicht blies. Sie sah bedrückt aus. Bald, sehr bald würde sie in Frieden ruhen. Alle würden sie in Frieden ruhen.
Er beobachtete, wie sie ins Auto stieg, die Tür zuschlug und den Motor anließ. Das Auspuffrohr stieß ein Rauchwölkchen aus. In sanftem Bogen fuhr der Wagen über den Parkplatz und bog zur Straße ab.
Er wartete, bis das Polizeiauto ebenfalls in Richtung Straße abgebogen war, bevor er zu seinem eigenen Wagen ging. Jetzt würde sie in ihre Praxis fahren, und er würde weiterhin wachsam sein. Der richtige Moment war noch nicht gekommen. Er hatte noch Zeit, für sie zu beten. Und für sich selbst.
Tess legte den Telefonhörer auf, lehnte sich im Stuhl zurück und schloß die Augen. Eine fünfzigprozentige Trefferquote reichte in ihrem Job in keiner Weise aus.
Joey Higgins. Wie sollte sie den Jungen behandeln, wenn sie nicht mit ihm sprechen durfte? Seine Mutter hatte es untersagt. Joey trank nicht mehr, deshalb ging es Joey bestens und folglich konnte er sich die Peinlichkeit einer psychiatrischen Behandlung ersparen. Es war ein beschwerliches und letzten Endes nutzloses Gespräch gewesen. Ein As hatte sie noch im Ärmel, das sie jetzt ausspielen mußte.
Tess beugte sich vor und setzte sich über die
Gegensprechanlage mit ihrer Sekretärin in Verbindung.
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»Kate, wieviel Zeit habe ich noch, bis der nächste Patient kommt?«
»Zehn Minuten.«
»Okay. Dann verbinden sie mich bitte mit Donald Monroe.«
»Wird sofort gemacht.«
Während Tess wartete, blätterte sie Joeys Akte durch.
Ihre letzte Sitzung hatte sie noch sehr deutlich in Erinnerung.
»Sterben ist keine große Sache.«
»Warum sagst du so etwas, Joey?«
»Weil es so ist. Es sterben dauernd
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