Verlorene Seelen
303. Die Feuertreppe geht bis zum dritten Stock. Wenn er versucht abzuhauen, will ich nicht in einer Gegend, in der er sich auskennt, hinter ihm herjagen.«
Ed holte ein Zehncentstück aus der Tasche. »Wir werfen eine Münze hoch, um zu entscheiden, wer ins Haus geht und wer die Feuertreppe überwacht.«
»Okay. Bei Kopf geh ich rein, bei Wappen klettere ich die Feuertreppe hoch und überwache das Fenster. O nein, nicht hier drinnen.« Ben legte Ed die Hand auf den Arm, bevor sein Partner die Münze hochwerfen konnte. »Als du die Münze das letztemal hier drinnen geworfen hast, mußte ich Sojakeime zum Lunch essen. Das machen wir draußen, wo wir mehr Platz haben.«
Da Ed einverstanden war, stiegen sie aus und stellte sich auf den Bürgersteig. Bevor Ed die Münze hochwarf, streifte er seine Handschuhe ab und steckte sie in die Tasche.
»Kopf«, verkündete er und zeigte Ben die Münze. »Laß mir ein bißchen Zeit, um in Stellung zu gehen.«
»Na, dann los.« Ben kickte den Hals einer Bierflasche zur Seite und betrat das Gebäude, in dem es nach Erbrochenem und Whiskey roch. Während er in den 362
dritten Stock hochstieg, machte Ben den Reißverschluß seiner Jacke auf. Bevor er an die Tür von Apartment 303
klopfte, blickte er den Gang auf und ab und unterzog ihn einer gründlichen Musterung.
Ein Halbwüchsiger mit verfilzten Haaren und einem fehlenden Vorderzahn öffnete die Tür einen Spaltbreit.
Schon bevor er das Pot roch, konnte Ben an den Augen des anderen sehen, daß er high war. »Amos Reeder?«
»Wer will denn was von ihm?«
Ben zeigte seine Dienstmarke vor.
»Amos ist nicht da. Er ist gerade auf Arbeitssuche.«
»Okay. Dann unterhalten wir uns eben.«
»Mann, haben Sie vielleicht einen Haftbefehl?«
»Wir können uns hier im Gang, in der Wohnung oder auf dem Revier unterhalten. Hast du einen Namen?«
»Ich brauche Ihnen gar nichts zu sagen. Ich hab’ nix ausgefressen.«
»Klar, und ich kann genug Gras riechen, daß es als hinreichender Verdacht gelten kann. Soll ich mal reinkommen und mich ein bißchen umsehen? Das
Rauschgiftdezernat macht diese Woche eine Sonderaktion.
Für jedes Päckchen Pot, das ich abliefere, bekomme ich ein T-Shirt geschenkt.«
»Kevin Danneville.« Ben sah, wie dem Jungen der Schweiß auf die Stirn trat. »Hören Sie, ich habe auch meine Rechte. Ich muß mich nicht mit Bullen
unterhalten.«
»Du wirkst ziemlich nervös, Kevin.« Ben preßte die Hand gegen die Tür, damit der andere sie nicht zumachen konnte. »Wie alt bist du denn?«
»Ich bin achtzehn, falls Sie das irgendwas angeht.«
»Achtzehn? Du siehst mir aber eher wie sechzehn aus, 363
und du bist nicht in der Schule. Könnte sein, daß ich dich zum Jugendamt bringen muß. Warum erzählst du mir nicht einfach, was du von einem kleinen Mädchen weißt, dessen Vati eine Münzsammlung hatte?«
Es war die Änderung von Kevins Blickrichtung, die Ben das Leben rettete. Er sah den verdutzten Gesichtsausdruck des Jungen und wirbelte instinktiv herum. Das Messer sauste nieder, doch statt ihm die Halsschlagader zu durchtrennen, schlitzte es ihm den Arm auf, während er gegen die Tür fiel und in das Apartment stürzte.
»Mensch, Amos, das ist ein Bulle. Du kannst doch keinen Bullen umbringen!« Kevin wich eilig zurück, rannte gegen einen Tisch und warf eine Lampe zu Boden, die klirrend in Scherben ging.
Reeder, der von den Drogen, die er sich gerade beschafft hatte, völlig high war, grinste bloß. »Ich werd’ dem Drecksack das Herz aus dem Leibe schneiden.«
Ben hatte gerade noch Zeit, um zu sehen, daß sein Gegner kaum über das Oberschulalter hinaus war, bevor dieser wieder mit dem Messer auf ihn losging. Er warf sich zur Seite und versuchte verzweifelt, mit der linken Hand seine Pistole zu ziehen, während Blut über die rechte strömte. Kevin wuselte wie eine Krabbe über den Fußboden und wimmerte. Hinter ihnen wurde das Fenster eingeschlagen.
»Polizei.« Ed stand breitbeinig und mit erhobener Waffe vor dem Fenster. »Laß das Messer fallen, sonst schieße ich!«
Speichel rann Amos aus dem Mundwinkel, während er den Blick auf Ben richtete. Dann kicherte er, so unglaublich es klingen mag. »Ich muß dich aufschlitzen.
Muß dich in kleine Stücke schneiden, Mann.« Mit erhobenem Messer ging er auf Ben los. Die Kugel aus der 364
Achtunddreißiger traf ihn mitten in die Brust und schleuderte ihn zurück. Einen Moment lang stand er mit weit aufgerissenen Augen da, während ihm das Blut aus
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