Verlorene Seelen
Stirnrunzeln, Überraschung, dann ein belustigter Ausdruck.
»Ein Einriegelschloß. Mein Gott, Ben, du verstehst es wirklich, das Herz einer Frau im Sturm zu erobern.«
»Ja, da habe ich durchaus Talent.«
Ihre Lippen rundeten sich, als sie sie auf seinen Mund preßte. »Ich werde es immer wie einen Schatz hüten.
Wenn es nicht ganz so unhandlich wäre, würde ich es auf dem Herzen tragen.«
»In weniger als einer Stunde wird es an deiner Tür sein.
Ich habe neulich mein Werkzeug mitgebracht und in den Wandschrank in der Küche gestellt.«
»Praktisch veranlagt bist du also auch.«
»Gibt es nicht etwas, mit dem du dich ein Weilchen beschäftigen könntest? Sonst zwinge ich dich, mir 352
zuzusehen.«
»Mir wird schon etwas einfallen«, versprach sie und ließ ihn an die Arbeit gehen.
Während er mit dem Einbau des Schlosses beschäftigt war, überarbeitete Tess einen Vortrag, den sie im nächsten Monat an der George Washington University halten sollte.
Das Surren der Bohrmaschine und das metallischhölzerne Klappern störten sie nicht im geringsten. Allmählich fragte sie sich, wie sie die vollkommene Stille, die vor ihm in ihrem Leben geherrscht hatte, überhaupt hatte aushalten können.
Nachdem sie den Vortrag überarbeitet und die mit nach Hause genommenen Akten durchgesehen hatte, drehte sie sich um und sah, daß er der Sache gerade den letzten Schliff gab. Das Schloß glänzte und wirkte sehr stabil.
»Das müßte eigentlich reichen.«
»Mein Held!«
Er machte die Tür zu, hielt ein Paar Schlüssel in die Höhe und legte sie auf den Tisch. »Du mußt es aber auch benutzen. Ich packe schnell mein Werkzeug weg, dann wasche ich ab. Du kannst inzwischen auffegen.«
»Hört sich fair an.« Auf dem Weg zur Tür blieb sie stehen und schaltete den Fernseher an, um Nachrichten zu sehen.
Obwohl er mehr Dreck gemacht zu haben schien, als das kleine Schloß rechtfertigte, fegte Tess ohne zu murren das Sägemehl auf die Kehrichtschaufel. Als sie sich, Kehrichtschaufel und Handfeger noch in der Hand, wieder aufrichtete, kam gerade die Hauptmeldung des Tages.
»In einem Apartment im Nordwesten der Stadt hat die Polizei heute die Leichen von drei Personen entdeckt. Eine besorgte Nachbarin hatte die Polizei alarmiert, die am 353
späten Nachmittag in das Apartment eindrang. Die mit einer Wäscheleine gefesselten Opfer wiesen zahlreiche Messerstiche auf. Bei den Ermordeten handelt es sich um Jonas Leery, seine Frau Kathleen Leery und Paulette Leery, die halbwüchsige Tochter des Ehepaars. Man vermutet, daß es sich um Raubmord handelt. Wir schalten um zu Bob Burroughs, der sich am Tatort befindet.«
Auf dem Bildschirm erschien ein stämmiger, athletisch aussehender Reporter, der ein Mikrofon in der Hand hielt und auf das hinter ihm befindliche Backsteingebäude zeigte. Tess drehte sich um und sah Ben an der Küchentür stehen. Sie wußte sofort, daß er das Innere dieses Gebäudes aus eigener Anschauung kannte.
»O Ben, das muß schrecklich gewesen sein!«
»Sie waren seit zehn, vielleicht zwölf Stunden tot. Das Mädchen kann nicht älter als sechzehn gewesen sein.« Die Erinnerung daran rief ein brennendes Gefühl in seinem Magen hervor. »Sie haben sie wie Schlachtvieh
tranchiert.«
»Es tut mir so leid.« Sie legte alles beiseite und ging zu ihn. »Komm, setzen wir uns.«
»Man erreicht einen Punkt«, sagte er, wobei er immer noch auf den Bildschirm blickte, »man erreicht einen Punkt, wo alles fast, fast zur Routine wird. Dann erlebt man so etwas wie das in dem Apartment, und der Magen dreht sich einem um. Man denkt, Gott, das kann doch nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein, weil Menschen anderen Menschen so etwas nicht antun können. Aber im tiefsten Innern weiß man, daß sie es können.«
»Setz dich, Ben«, murmelte sie und zog ihn mit sanfter Gewalt auf die Couch. »Soll ich den Fernseher
abschalten?«
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»Nein.« Er stützte den Kopf kurz in die Hände. Dann fuhr er sich durchs Haar und setzte sich aufrecht hin. Der vom Tatort berichtende Reporter sprach gerade mit einer weinenden Nachbarin.
»Paulette hat oft auf meinen kleinen Jungen aufgepaßt.
Sie war ein liebes Mädchen. Ich kann das alles nicht fassen. Ich kann es einfach nicht fassen.«
»Diese Dreckskerle werden wir schnappen«, sagte Ben halb zu sich. »Es ging um eine Münzsammlung, eine beschissene Münzsammlung, die achthundert oder vielleicht tausend Dollar wert ist. Wenn sie die Sammlung an einen Hehler
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