Verlorene Seelen
erinnert werden.
Dr. Court sagte, Joey sei nicht an der Krankheit seines Vaters schuld. Doch Joey glaubte, daß, wenn er die Krankheit von seinem Vater bekommen hatte, sein Vater sie vielleicht auch irgendwie von ihm bekommen hatte.
Er erinnerte sich, wie er einmal spät abends im Bett gelegen und sein Vater herumgebrüllt hatte, mit der belegten, unangenehmen Stimme, mit der er immer sprach, wenn er viel getrunken hatte.
»Du denkst nur an den Jungen. Du denkst nie an mich.
Seit wir ihn haben, ist alles anders geworden.«
Später hatte er dann seinen Vater laut schluchzen hören, was irgendwie noch schlimmer war als sein Wutausbruch.
»Es tut mir leid, Lois. Ich liebe dich doch. Ich liebe dich doch so sehr! Das kommt alles von dem Druck, unter dem ich stehe. Diese Dreckskerle im Betrieb schikanieren mich in einem fort. Am liebsten würde ich ihnen morgen den ganzen Krempel vor die Füße schmeißen, aber Joey braucht ja alle naselang neue Schuhe.«
Joey wartete, bis ein Auto an ihm vorbeigerattert war.
Dann überquerte er die Straße und ging in Richtung Park.
Der Schnee fiel jetzt ganz dicht und sah aus wie ein weißer Schleier, der im Wind hin und her wehte. In der eisigen Luft nahmen seine Wangen eine gesunde, rötliche Farbe an.
Damals hatte er gedacht, daß sein Vater sich nicht betrinken müßte, wenn er keine neuen Schuhe brauchte.
Dann war ihm klargeworden, daß die Dinge für jeden viel einfacher sein würden, wenn er nicht wäre. Deshalb war er mit neun von zu Hause weggelaufen. Das war gruselig gewesen, weil er sich verirrt hatte und in der Dunkelheit seltsame Geräusche zu hören waren. Die 377
Polizei hatte ihn nach ein paar Stunden gefunden, doch Joey war es so vorgekommen, als seien es Tage gewesen.
Seine Mutter hatte geweint, und sein Vater hatte ihn fest an sich gedrückt. Alle hatten sich gegenseitig Versprechen gegeben, die sie auch zu halten gedachten. Eine Zeitlang war alles besser gewesen. Sein Vater war zu den Anonymen Alkoholikern gegangen, und seine Mutter hatte wieder öfter gelacht. Das war das Weihnachtsfest, an dem Joey sein Fahrrad bekommen und sein Vater Stunden damit zugebracht hatte, neben ihm herzurennen und ihn am Sattel festzuhalten. Er hatte Joey nicht ein einziges Mal umkippen lassen.
Doch kurz vor Ostern hatte sein Vater wieder
angefangen, spät nach Hause zu kommen. Die Augen seiner Mutter waren ständig gerötet, und sie hatte nicht mehr gelacht. Eines Abends war Joeys Vater in einem zu großen Bogen die Auffahrt hochgefahren und hatte dabei das Fahrrad übersehen. Sein Vater war brüllend ins Haus gekommen. Das Fluchen und die lauten Vorwürfe hatten Joey geweckt. Sein Vater hatte Joey aus dem Bett holen und mit nach draußen nehmen wollen, um ihm zu zeigen, wozu seine Nachlässigkeit geführt hatte. Seine Mutter war ihm in den Weg getreten.
Das war das erste Mal, daß er gehört hatte, wie sein Vater seine Mutter schlug.
Wenn er das Fahrrad weggestellt hätte, statt es auf dem Rasen neben der Auffahrt stehenzulassen, wäre sein Vater nicht dagegen gefahren. Dann wäre sein Vater auch nicht so wütend geworden und hätte seine Mutter nicht geschlagen. Der Bluterguß auf der Wange, den sie mit Make-up zu verbergen suchte, wäre ihr erspart geblieben.
In jener Nacht hatte Joey zum erstenmal Alkohol probiert.
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Das Zeug hatte ihm nicht geschmeckt. Es hatte im Mund gebrannt und seinen Magen in Aufruhr versetzt. Doch nachdem er drei- oder viermal an der Flasche genippt hatte, hatte er das seltsame Gefühl, als habe er einen dünnen Panzer angelegt. Ihm war nicht mehr nach Weinen zumute: Als er wieder ins Bett kletterte, war in seinen Kopf ein angenehmes, leises Summen zu hören gewesen.
Dann war er in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken.
Seit jener Nacht hatte Joey sich jedesmal mit Alkohol betäubt, wenn seine Eltern sich stritten.
Dann hatten sich die Auseinandersetzungen, das Herumgebrüll und die Beschimpfungen aufs gräßlichste gesteigert, und es war zur Scheidung gekommen. Eines Tages hatte seine Mutter ihn von der Schule abgeholt und war mit ihm in ein kleines Apartment gefahren. Dort erklärte sie ihm so behutsam wie möglich, warum sie nicht mehr mit seinem Vater zusammenleben würden.
Er hatte sich geschämt, schrecklich geschämt, weil er froh gewesen war.
Sie hatten ein neues Leben begonnen. Seine Mutter war wieder arbeiten gegangen. Sie schnitt sich das Haar kurz und trug ihren Ehering nicht mehr. Doch von Zeit zu Zeit fiel Joey der
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