Verlorene Seelen
dünne helle Streifen auf, wo über ein Jahrzehnt lang der Ring gesessen hatte.
Er konnte sich noch erinnern, wie ängstlich, wie flehend sie ihn angeblickt hatte, als sie ihm von der Scheidung erzählt hatte. Da sie befürchtete, daß er ihr die Schuld geben würde, hatte sie den Schritt, der sie mit Schuldgefühlen und Zweifeln erfüllte, gerechtfertigt, indem sie ihm all das berichtete, was er bereits wußte.
Doch es von ihr zu hören, hatte dazu geführt, daß seine letzten, schwachen Abwehrkräfte zerstört worden waren.
Er konnte sich auch noch erinnern, wie sehr sie das 379
erstemal geweint hatte, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war und ihren elfjährigen Sohn betrunken vorgefunden hatte.
Im Park war alles still. Auf dem Erdboden hatte sich bereits eine dünne, hübsche weiße Schneedecke gebildet.
Nach einer Stunde würde man seine Fußspuren nicht mehr sehen. Das war ganz so, wie es sein sollte, fand Joey. Der Schnee fiel jetzt in großen weichen Flocken, die an den Ästen der Bäume haften blieben und glitzernd und frisch auf den Büschen lagen. Die Flocken schmolzen auf seinem Gesicht, so daß seine Haut ganz feucht wurde, doch das machte ihm nichts aus. Er fragte sich – wenn auch nur einen Moment lang –, ob seine Mutter wohl schon in sein Zimmer hochgegangen war und entdeckt hatte, daß er verschwunden war. Es tat ihm leid, ihr Kummer zu bereiten, aber er wußte, daß das, was er vorhatte, die Situation für alle leichter machen würde.
Besonders für ihn selbst.
Diesmal war er nicht neun Jahre alt. Und er hatte auch keine Angst.
Er war mit seiner Mutter zu Treffen von
Selbsthilfegruppen für alkoholabhängige Teenager gegangen. Das hatte jedoch nichts gebracht. Er ließ niemanden an sich heran, weil er nicht zugeben wollte, daß er sich schämte, wie sein Vater zu sein.
Dann war Donald Monroe aufgetaucht. Joey wollte sich darüber freuen, daß seine Mutter wieder glücklich war, fühlte sich jedoch auch schuldig, weil er kurz davor stand, einen Ersatz für seinen Vater zu akzeptieren. Seine Mutter lachte wieder, und Joey war froh, weil er sie so sehr liebte.
Sein Vater wurde immer verbitterter, und Joey nahm die Veränderung übel, weil er seinen Vater so sehr liebte.
Seine Mutter heiratete, und ihr Name änderte sich. Es 380
war nicht mehr derselbe wie Joeys Name. Sie zogen in ein Haus in einer Gegend, in der ziemlich wohlhabende Leute wohnten. Joeys Zimmer ging zum Garten hinaus. Sein Vater klagte über die Unterhaltszahlungen.
Als Joey zu Dr. Court in die Therapie gekommen war, fand er bereits jeden Tag Mittel und Wege, um sich zu betrinken. Außerdem hatte er schon begonnen, sich mit Selbstmordgedanken zu tragen.
Zuerst hatte es ihm nicht gefallen, zu ihr zu gehen. Doch sie hatte weder auf ihn eingeredet noch Druck ausgeübt oder gar behauptet, ihn zu verstehen. Sie hatte sich einfach mit ihm unterhalten. Als er aufhörte zu trinken, gab sie ihm einen Kalender, den sie als immerwährenden Kalender bezeichnete und den er ständig benutzen konnte.
»Es gibt heute etwas, worauf du stolz sein kannst, Joey.
Und es wird jeden Tag etwas geben, auf das du morgens, wenn du aufstehst, stolz sein kannst.«
Manchmal hatte er ihr geglaubt.
Sie sah ihn nie mit jenem raschen, scharfen Blick an, wenn er ins Zimmer kam, wie seine Mutter es immer noch tat. Dr. Court hatte ihm den Kalender gegeben und glaubte an ihn. Seine Mutter erwartete nach wie vor, daß er sie enttäuschte. Deswegen hatte sie ihn auf eine andere Schule geschickt. Deswegen ließ sie es nicht zu, daß er mit seinen Freunden zusammen war.
Du wirst neue Freunde finden, Joey. Ich will nur dein Bestes.
Sie wollte nur, daß er nicht wie sein Vater war.
Aber er war wie sein Vater.
Und wenn er erwachsen war, würde er vielleicht einen Sohn haben, und sein Sohn würde wie er sein. Das Ganze würde nie aufhören. Das war wie ein Fluch. Davon hatte 381
er in Büchern gelesen. Ein Fluch konnte von Generation zu Generation weitergegeben werden. Manchmal konnte man sich durch einen Exorzismus davon befreien. In einem der Bücher, die er unter seiner Matratze aufbewahrte, wurde die Zeremonie geschildert, mit der man das Böse austreiben konnte. Eines Nachts, als seine Mutter und sein Stiefvater zu einem Geschäftsessen waren, hatte er die Zeremonie Punkt für Punkt
durchgeführt. Als er fertig war, fühlte er sich in keiner Weise anders. Das was für ihn der Beweis, daß das Böse in ihm – der Teil, der nichts taugte –
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