Verlorene Seelen
haben gestern abend selbst von Neugier
gesprochen. Senator Jonathan Writemore ist Ihr Großvater mütterlicherseits. Steht ein wenig links von der Mitte, nimmt kein Blatt vor den Mund, hat Charisma und ist knallhart.«
»Die Beschreibung würde ihm gefallen.«
»Mit vierzehn haben Sie Ihre Eltern verloren. Das tut mir leid.« Er hob sein Glas an die Lippen. »Es ist immer schlimm, Familienangehörige zu verlieren.«
Der mitfühlende Ton, in dem er das sagte, verriet ihr, daß auch er jemanden verloren hatte. »Mein Großvater spielte eine entscheidende Rolle. Ohne ihn wäre ich vielleicht nie darüber hinweggekommen. Wie haben sie es geschafft, soviel herauszufinden?«
»Polizisten geben ihre Informationsquelle nie preis. Ich habe übrigens Ihr Täterprofil gelesen.«
Sie ging in Abwehrhaltung, da sie Kritik erwartete.
»Und?«
»Sie sind der Ansicht, daß unser Mann intelligent ist.«
»Ja. Gerissen. Er hinterläßt nur, was er hinterlassen will, 71
aber keine Spuren.«
Nach einer Weile nickte Ben. »Was Sie schreiben, leuchtet ein. Es würde mich interessieren, wie Sie zu diesen Schlußfolgerungen gelangt sind.«
Bevor sie antwortete, nippte Tess an ihrem Drink. Sie stellte sich gar nicht erst die Frage, warum es wichtig war, daß er alles verstand. Es war einfach so. »Ich gehe von den Fakten aus, von dem Muster, das er hinterläßt. Dabei fällt auf, daß es jedesmal fast identisch ist. Er weicht nicht davon ab. Ich glaube, in Ihrem Bereich nennt man das Tatverlauf.«
Er lächelte ein wenig, als er nickte. »Stimmt.«
»Aus diesem Muster ergibt sich ein psychologisches Bild. Sie haben gelernt, nach Spuren, Beweisen und Motiven zu suchen, um den Täter zu fassen. Ich habe gelernt, nach Gründen und Ursachen zu suchen, um den Betreffenden zu behandeln. Um ihn zu behandeln, Ben«, wiederholte sie und sah ihn unverwandt an. »Nicht um über ihn zu richten.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Und Sie glauben, ebendies mache ich?«
»Sie wollen ihn schnappen«, erwiderte sie.
»Ja, das will ich. Um ihn aus dem Verkehr zu ziehen und einzusperren.«
Er drückte seine Zigarette aus, langsam und sorgfältig.
Eine fürsorgliche Maßnahme. Doch seine Hände waren sehr kräftig.
»Sie wollen, daß er bestraft wird. Das verstehe ich, selbst wenn ich es nicht billige.«
»Sie möchten ihm lieber in den Kopf schauen und ihn zu einem besseren Menschen machen. Meine Güte.« Er kippte seinen Drink runter. »Wegen eines solchen Mannes 72
braucht Ihnen nicht das Herz zu bluten.«
»Mitgefühl gehört zu meinem Beruf«, entgegnete sie mit gepreßter Stimme. »Er ist krank, schrecklich krank.
Wenn Sie mein Täterprofil gelesen und verstanden haben, müßten Sie wissen, daß er bei dem, was er tut, leidet.«
»Er erdrosselt Frauen. Mag sein, daß es ihn schmerzt, ihnen die Luft abzudrehen, aber davon werden sie nicht wieder lebendig. Ich empfinde durchaus Mitgefühl, Tess, und zwar für die Familienangehörigen der Mordopfer, mit denen ich sprechen mußte. Ich muß ihnen ins Gesicht sehen, wenn sie mich fragen, warum. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.«
»Das tut mir leid.« Ohne nachzudenken, langte sie nach seiner Hand und ergriff sie. »Es ist ein gräßlicher Job.
Einer, der einen nachts nicht zur Ruhe kommen läßt. Ich habe auch schon mit Familienangehörigen sprechen müssen – Menschen, die nach einem Selbstmord wie betäubt und verbittert waren.« Sie spürte, wie seine Hand sich verkrampfte, und streichelte sie automatisch.
»Wenn man dann nachts um drei wach liegt, sieht man immer noch ihre fragenden, kummervollen Gesichter vor sich. Ben …« Sie beugte sich zu ihm hinüber, weil sie das Bedürfnis hatte, ihm näher zu sein. »Ich muß bei dieser Sache wie ein Arzt denken. Ich könnte Ihnen jetzt allerlei Fachausdrücke nennen – Antriebsstörung, funktionelle Psychose. Ganz gleich, welches Etikett wir benutzen, es steht für eine Krankheit. Dieser Mann tötet nicht aus Rache oder aus Gewinnsucht, sondern aus Verzweiflung.«
»Und ich muß wie ein Polizist denken. Es ist meine Aufgabe, ihn zu fassen. Darauf läuft alles hinaus.« Er schwieg einen Moment. Dann schob er sein Glas beiseite.
»Wir haben über Ihren Monsignore Logan gesprochen.
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Harris kümmert sich darum.«
»Das ist gut. Ich danke Ihnen.«
»Tun Sie es lieber nicht. Ich halte nicht viel von der Idee.«
Mit einem leisen Seufzer lehnte sie sich wieder zurück.
»Wir haben überhaupt keine gemeinsame Basis, nicht
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