Verlorene Seelen
deprimierte ihn nur gelegentlich. »Die
Pressekonferenz ist für acht Uhr früh anberaumt, im Büro des Bürgermeisters. Morgen will ich einen Bericht über das Treffen mit Monsignore Logan auf meinem
Schreibtisch haben. Bigsby, Sie versuchen weiterhin herauszufinden, woher diese verdammten Priesterschals stammen. Lowenstein, Roderick, Sie nehmen sich noch einmal die Familien und die Freunde der Opfer vor. Und jetzt verschwindet und geht etwas essen.«
Ed wartete, bis sie sich aus dem Dienstbuch ausgetragen hatten, die Korridore entlanggegangen waren und den Parkplatz überquerten.
»Es bringt nichts, wenn du das, was mit deinem Bruder passiert ist, an Dr. Court ausläßt.«
»Josh hat nichts damit zu tun.« Doch der Schmerz war immer noch da. Er konnte den Namen seines Bruders noch nicht einmal aussprechen, ohne daß es ihm die Kehle zusammenschnürte.
»Genau. Und Dr. Court macht nur ihren Job, so wie wir alle.«
»Na, prima. Bloß glaube ich nicht, daß ihr Job irgend etwas mit unserem zu tun hat.«
»Die Kriminalpsychiatrie ist inzwischen ein wertvolles Hilfsmittel bei der …«
»Mensch, Ed, du solltest wirklich aufhören, diese ganzen Zeitschriften zu lesen.«
»Wer aufhört zu lesen, hört auf zu lernen. Wollen wir uns einen ansaufen?«
»Und das von einem Mann, der Sonnenblumenkerne bei sich hat.« Seine innere Anspannung hatte ihn noch nicht ganz verlassen. Er hatte seinen Bruder verloren, doch dann 95
war Ed dahergekommen und hatte die Lücke fast
ausgefüllt. »Nicht heute abend. Außerdem ist es mir immer peinlich, wenn du dir Unmengen von Fruchtsaft in deinen Wodka gießen läßt.«
»Man muß an seine Gesundheit denken.«
»Man muß auch an seinen Ruf denken.« Ben öffnete die Tür seines Wagens. Dann stand er, mit den Schlüsseln klimpernd, unschlüssig da.
Der Abend war kühl, so frisch, daß man seinen Atem sehen konnte. Wenn es in der Nacht noch Niederschlag gab, wie der sternenlose Himmel vermuten ließ, würde es in Form von Schneeregen sein. In ihren schmucken Reihenhäusern würden die wohlhabenden Einwohner von Georgetown große Holzscheite in den offenen Kamin legen, Irish Coffee trinken und sich am prasselnden Feuer erfreuen. Den Obdachlosen stand eine lange,
unangenehme Nacht bevor.
»Sie macht mich nervös«, sagte Ben abrupt.
»Wenn eine Frau so aussieht, kann es nicht ausbleiben, daß sie die Männer nervös macht.«
»So einfach ist das nicht.« Ben stieg ins Auto und wünschte, den Finger auf das Problem legen zu können.
»Ich hole dich morgen ab. Sieben Uhr dreißig.«
»Ben.« Ed beugte sich vor und hielt die Wagentür fest
»Grüß sie von mir.«
Ben schloß die Tür und ließ den Motor aufheulen. Wenn man zusammenarbeitete, kannte man einander einfach zu gut.
Tess legte den Telefonhörer auf und preßte sich, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Handballen gegen die Augenlider. Joe Higgins senior brauchte ebensosehr eine 96
Therapie wie sein Sohn, doch um das zu erkennen, hätte er weniger damit beschäftigt sein müssen, sein Leben kaputtzumachen. Der Anruf hatte zu nichts geführt. Aber das taten Unterredungen mit Alkoholikern, die sich gerade wieder einmal vollaufen ließen, ohnehin selten. Als sie seinen Sohn erwähnt hatte, hatte er bloß geweint und ihr mit lallender Stimme versprochen, morgen anzurufen.
Was er nicht tun wird, dachte Tess.
Höchstwahrscheinlich würde er sich morgen noch nicht einmal an das Gespräch erinnern. Bei der Behandlung Joeys hing alles vom Vater ab, und der Vater kam von der Flasche nicht los – eben jener Flasche, die seine Ehe zerstört hatte, ihn unzählige Jobs gekostet und ihn einsam und unglücklich gemacht hatte.
Wenn sie ihn bloß überreden könnte, zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen, ihn dazu bringen könnte, den ersten Schritt zu tun … Tess stieß einen Seufzer aus und ließ die Hände sinken. Hatte Joeys Mutter nicht erzählt, wie oft sie ihn dazu gedrängt, wie viele Jahre lang sie versucht hatte, Joseph Higgins senior von der Flasche loszueisen?
Tess konnte die Verbitterung der Frau verstehen und respektierte ihren Entschluß, ein neues Leben zu beginnen und die Vergangenheit zu begraben. Aber Joey war dazu nicht in der Lage. Seine ganze Kindheit hindurch hatte seine Mutter dafür gesorgt, daß er von der Krankheit seines Vaters sowenig wie möglich mitbekam. Sie hatte Entschuldigungen erfunden, um zu erklären, warum er immer so spät nach Hause kam oder warum er wieder einmal
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