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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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einen Job verloren hatte, weil sie meinte, dem Jungen die Wahrheit verheimlichen zu müssen.
    Als Kind hatte Joey zuviel gesehen und noch mehr gehört. Dann hatte er sich die Ausflüchte seiner Mutter zu eigen gemacht und damit eine Mauer aus Lügen um seinen 97
    Vater errichtet. Lügen, die er unbedingt glauben wollte.
    Wenn sein Vater trank, dann war es okay zu trinken. Und zwar derart okay, daß Joey bereits mit vierzehn wegen Alkoholsucht behandelt wurde. Wenn sein Vater seinen Job verlor, dann lag es daran, daß sein Boß neidisch auf ihn war. Unterdessen wurden Joeys Zensuren in der Schule immer schlechter, da seine Achtung vor den Erwachsenen und vor sich selbst immer weiter abnahm.
    Als Joeys Mutter es nicht mehr geschafft hatte, die Trunksucht ihres Mannes zu ertragen, und es zum Bruch gekommen war, war alles, was sie im Laufe der Jahre geschluckt hatte, wieder hochgekommen – die Lügen, die gebrochenen Versprechen, der eigene Groll. Sie hatte dem Sohn die Fehler des Vaters vorgezählt, ein verzweifelter Versuch, ihm dessen Fehler bewußt zu machen und sich von Schuld reinzuwaschen. Joey hatte natürlich weder ihr noch seinem Vater die Schuld gegeben. Es gab nur eine Person, der Joey die Schuld geben konnte, und das war er selbst.
    Seine Familie war auseinandergebrochen, er hatte das Zuhause, in dem er aufgewachsen war, verlassen müssen, und seine Mutter war arbeiten gegangen. Da hatte er den Halt verloren. Als Mrs. Higgins sich wieder verheiratet hatte, war es Joeys Stiefvater, der darauf gedrungen hatte, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Als Tess mit Joeys Behandlung begonnen hatte, lagen lange Jahre voller Schuldgefühle, Bitterkeit und Kummer hinter ihm. In zwei Monaten hatte sie es noch nicht einmal geschafft, seinen Panzer ein bißchen einzudellen – weder bei ihren Zweiersitzungen noch bei den Familiengesprächen, die zweimal im Monat stattfanden und bei denen auch seine Mutter und sein Stiefvater zugegen waren.
    Wut befiel sie, so rasch und so heftig, daß sie mehrere Minuten lang dagegen ankämpfen mußte. Es war nicht 98
    ihre Aufgabe, wütend zu sein, sondern zuzuhören, Fragen zu stellen, eine Alternative aufzuzeigen. Mitgefühl – sie durfte Mitgefühl empfinden, aber keinen Zorn. So saß sie da, während der Zorn in ihr aufstieg und die
    Selbstbeherrschung zu überwinden versuchte, die ihr angeboren war und die sie dann später zu einem Instrument ihres Berufs verfeinert hatte. Am liebsten hätte sie irgend etwas getreten, gegen irgend etwas geschlagen, irgendwie auf dieses widerwärtige Gefühl der
    Hoffnungslosigkeit eingedroschen.
    Statt dessen nahm sie Joeys Akte zur Hand und fing an, sich weitere Notizen über ihre Nachmittagssitzung zu machen.
    Schneeregen hatte eingesetzt. Sie nahm ihre Brille vom Tisch, blickte jedoch nicht aus dem Fenster und sah deshalb auch nicht den Mann, der auf der anderen Straßenseite am Bordstein stand und die erleuchteten Fenster ihres Apartments beobachtete. Wenn sie hinausgeblickt und ihn bemerkt hätte, hätte sie sich nichts dabei gedacht.
    Ebenso wie sie sich nichts dabei dachte, als es an der Tür klopfte. Sie ärgerte sich nur über die Störung. Ihr Telefon hatte unablässig geklingelt, doch das hatte sie ignorieren können, da der Anrufbeantwortungsdienst sich um alles kümmerte. Wenn einer der Anrufer ein Patient gewesen wäre, hätte das Signalgerät neben ihr einen Piepton von sich gegeben. Tess nahm an, daß die Anrufe alle mit dem Artikel in der Abendzeitung zu tun gehabt hatten, der sie mit der Untersuchung der Mordfälle in Verbindung brachte.
    Tess ließ die Akte aufgeschlagen auf dem Tisch liegen und ging zur Tür. »Wer ist da?«
    »Paris.«
    99
    Dem Tonfall einer Stimme läßt sich eine Menge
    entnehmen, selbst wenn nur ein Wort gesagt wird. Als Tess die Tür öffnete, wußte sie, daß ihr eine
    Auseinandersetzung bevorstand. »Detective. Ist es nicht ein bißchen spät für einen offiziellen Besuch?«
    »Genau die richtige Zeit, um die Elf-Uhr-Nachrichten zu sehen.« Er ging zum Fernsehgerät hinüber und schaltete es an.
    Sie war an der Tür stehengeblieben. »Hast du keinen Fernseher zu Hause?«
    »Es macht mehr Spaß, sich den ganzen Rummel in Gesellschaft anzusehen.«
    Gereizt ließ sie die Tür zuknallen. »Hör mal, ich arbeite gerade. Warum sagst du nicht, was du zu sagen hast, und läßt mich mit meiner Arbeit weitermachen?«
    Er warf einen Blick auf ihren Schreibtisch, auf die aufgeschlagenen Akten und ihre große Lesebrille, die

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