Verlorene Seelen
immer noch dieser Ansicht wäre, könntest du dir deinen Fall sonstwohin stecken.
Glaubst du, ich habe Lust, meine Zeit damit zu verschwenden, mit einem engstirnigen Menschen, der sich zum Richter aufwirft, über die moralischen Grundsätze meines Berufs zu diskutieren? In meinem Leben gibt es auch ohne dich schon genug Probleme.«
»Probleme, Frau Doktor?« Er ließ seinen Blick langsam durch das Zimmer schweifen und betrachtete die Blumen, die Kristallsachen, die weichen Pastellfarben. »Hier sieht aber alles recht ordentlich aus.«
»Du weißt überhaupt nichts von mir, weder von meinem Leben noch von meiner Arbeit.« Sie ging zum
Schreibtisch und stützte sich mit den flachen Händen darauf, ohne indes ihre Selbstbeherrschung
wiederzuerlangen. »Siehst du diese Akten, diese Papiere, diese Tonbänder? Darin steckt das Leben eines
vierzehnjährigen Jungen. Eines Jungen, der bereits Alkoholiker ist, eines Jungen, der jemanden braucht, der ihm dazu verhilft, seinen eigenen Wert, seinen Platz im Leben zu erkennen.«
Sie wirbelte herum und sah ihn mit dunklen Augen erregt an. »Du weißt doch, was es heißt, zu versuchen, ein Leben zu retten, nicht wahr, Detective? Du weißt doch, wie weh es tut und welche Angst man dabei hat. Genau das versuche ich zu erreichen, auch wenn ich keine Pistole dabei benutze. Ich habe zehn Jahre meines Lebens damit 103
verbracht, zu lernen, wie man es macht. Vielleicht kann ich ihm, wenn ich genügend Zeit, Geschick und Glück habe, tatsächlich helfen. Verflucht noch mal.« Sie hielt inne, als ihr klar wurde, wie weit sie sich aufgrund weniger Worte hatte hinreißen lassen. »Ich brauche mich nicht vor dir zu rechtfertigen.«
»Nein, das brauchst du nicht.« Während er sprach, drückte er seine Zigarette in der kleinen Porzellanschale aus. »Es tut mir leid. Ich habe mich vergessen.«
Ihr Atem ging stoßweise, während sie versuchte, wieder zu sich zu kommen. »Was verbittert dich so an dem, was ich tue?«
Er war nicht bereit, es ihr zu sagen, ihr jene alte, vernarbte Wunde vorzuzeigen und analysieren zu lassen.
Statt dessen preßte er die Finger gegen die müden Augen.
»Es liegt nicht an dir, sondern an der ganzen
Angelegenheit. Ich habe das Gefühl, auf einem sehr dünnen Seil über einen sehr tiefen Abgrund zu laufen.«
»Das finde ich akzeptabel.« Obwohl es weder die ganze Wahrheit war noch die Antwort, die sie sich gewünscht hatte. »Im Moment ist es schwer, objektiv zu bleiben.«
»Laß uns mal kurz einen Schritt zurückgehen. Ich halte nicht viel von dem, was du tust, und vermutlich hältst du auch nicht viel von dem, was ich tue.«
Sie wartete eine Minute, dann nickte sie.
»Einverstanden.«
»Damit müssen wir leben.« Er ging zu ihrem
Schreibtisch und nahm ihre halbleere Kaffeetasse in die Hand.
»Ist davon noch was da?«
»Nein, aber ich könnte welchen machen.«
»Nicht nötig.« Er massierte sich die Schläfen. »Es tut 104
mir wirklich leid. Aber wir rackern uns ab, und das einzige, was wir erreichen, ist, daß irgend jemand der Presse Informationen zuspielt.«
»Ich weiß. Vielleicht verstehst du das nicht, aber ich stecke jetzt genauso in der Sache drin wie du und fühle mich genauso verantwortlich.« Sie machte erneut eine Pause, doch diesmal konnte sie sich in ihn hineindenken.
»Das ist eine harte Sache, nicht wahr? Sich
verantwortlich fühlen.«
Sie ist einfach zu gut in ihrem Job, dachte Ben, als er sich gegen den Schreibtisch lehnte. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß er bald wieder zuschlagen wird. Wir sind seiner Ergreifung um keinen Schritt näher. Wir können der Presse morgen eine Menge Scheiß erzählen, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß wir keinen Schritt weitergekommen sind. Daß du mir sagst, warum er tötet, wird der nächsten Frau, über die er herfällt, nicht viel nützen.«
»Ich kann dir nur sagen, wie es in seinem Inneren aussieht, Ben.«
»Und ich muß dir sagen, daß mich das einen Dreck interessiert.« Er drehte sich vom Schreibtisch weg, um sie anzusehen. Sie war wieder ruhig und gelassen. Um das festzustellen, brauchte er ihr bloß in die Augen zu sehen.
»Wenn wir ihn schnappen, und das werden wir, wird man auf dein psychiatrisches Täterprofil zurückgreifen.
Dann wird man Gutachten anfertigen und dich oder irgendeinen anderen Psychiater vor Gericht aussagen lassen, und zum Schluß kommt er ungeschoren davon.«
»Man wird ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen.
Das ist kein
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