Verlorene Seelen
Blödmann. Du hast das Recht, die Aussage zu verweigern. Du hast –
Tess, verflucht noch mal, habe ich nicht gesagt, du sollst im Auto bleiben?«
»Er hatte eine Pistole.«
»Die Bösewichte haben immer eine Pistole.« Während sie in ihrem taubenblauen Kaschmirmantel vor ihm stand, konnte er den Schweiß des kleinen Ganoven riechen. Sie sah aus, als sei sie auf dem Weg zu einer Cocktailparty in der Embassy Row. »Geh zum Auto zurück, du gehörst nicht hierher.«
Ohne auf Ben zu hören, musterte sie den Dieb. Er hatte eine große Schramme auf der Stirn, die von seinem Sturz herrührte. Das erklärte auch seinen etwas glasigen Blick.
Leichte Gehirnerschütterung. Seine Haut und das Weiße 132
seiner Augen hatten einen gelblichen Farbton. Schweiß stand ihm auf dem Gesicht, obwohl der Wind, der durch die Gasse fegte, seine Jacke aufbauschte. »Sieht so aus, als hätte er Hepatitis.«
»Er wird reichlich Zeit haben, wieder gesund zu werden.« Als Ben die Sirenen hörte, blickte er über ihre Schulter in Richtung Straße. »Da kommt die Kavallerie.
Jetzt können ihm die Uniformierten seine Rechte vorlesen.«
Als Ben ihren Arm nahm, schüttelte Tess den Kopf. »Du bist ihm hinterhergerannt, obwohl er eine Pistole hatte.«
»Ich auch«, entgegnete Ben, als er sie die Gasse entlangführte. Er zeigte den Streifenpolizisten kurz seine Marke, bevor er den Weg zum Auto fortsetzte.
»Du hattest sie aber nicht gezogen. Er wollte dich erschießen.«
»So machen die Bösewichte es eben. Sie begehen ein Verbrechen, wir verfolgen sie, und sie versuchen zu entkommen.«
»Tu nicht so, als sei es ein Spiel.«
»Alles ist ein Spiel.«
»Er wollte dich töten, und du warst wütend, weil du dir die Hose beschmutzt hast.«
Als er daran erinnert wurde, blickte Ben wieder an sich herab. »Die Hose muß mir das Dezernat bezahlen.
Schmiere geht nämlich nie raus.«
»Du bist verrückt.«
»Ist das ein fachmännisches Urteil?«
Es mußte einen guten Grund dafür geben, daß ihr nach Lachen zumute war. Tess beschloß, später gründlich darüber nachzudenken. »Daran arbeite ich noch.«
»Laß dir ruhig Zeit.« Infolge des Adrenalinstoßes 133
während der Verfolgungsjagd war Ben immer noch ganz aufgekratzt. Als sie zu seinem Auto gelangten, sah er, daß drei Streifenwagen eingetroffen waren – und das alles wegen eines kleinen Ganoven mit Hepatitis. Vielleicht waren sie alle verrückt. »Komm, setz dich ins Auto, während ich den Kollegen Bericht erstatte.«
»Du blutest am Mund.«
»Ah ja?« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete das verschmierte Blut. »Stimmt.
Vielleicht brauche ich einen Arzt.«
Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und betupfte damit die Schnittwunde. »Ja,, vielleicht.«
Hinter ihnen fing der Verhaftete an zu schimpfen.
Außerdem hatte sich eine Schar Neugieriger angesammelt.
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6
In den folgenden Tagen brach Tess unter ihrer Arbeitslast fast zusammen. Acht- und Zehn-Stunden-Tage dehnten sich zu Zwölf- und Vierzehn-Stunden-Tagen aus. Wegen ihrer Patienten sagte sie sogar ihr traditionelles Freitagabend-Dinner mit ihrem Großvater ab, was sie wegen einer Verabredung nie gemacht hätte.
Die Presse war ebenso hinter ihr her wie einige ihrer weniger feinfühligen Kollegen, darunter Frank Füller. Die Tatsache, daß sie mit der Polizei zusammenarbeitete, verlieh ihr in seinen Augen einen geheimnisvollen Nimbus und veranlaßte ihn, sich gegen fünf immer in der Nähe ihres Büros herumzudrücken. Daraufhin ging Tess dazu über, bis sechs in der Praxis zu bleiben.
Ohne über neue Informationen zu verfügen, war sie von quälender Sorge erfüllt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es ein weiteres Opfer gab. Das wurde ihr immer klarer, je besser sie die Denkweise des Mörders zu verstehen meinte.
Doch es war Joey Higgins, der sie bis in die frühen Morgenstunden des Samstags wach hielt und sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Straßen draußen waren dunkel und menschenleer, und vor Überanstrengung brannten ihr die Augen. Sie nahm ihre Brille ab, lehnte sich zurück und rieb sich die Augen.
Warum schaffte sie es nicht, an ihn heranzukommen und seinen Panzer zu durchdringen? Die Sitzung mit Joey, seiner Mutter und seinem Stiefvater am vergangenen Abend war eine Katastrophe gewesen. Wutanfälle, 135
Geschrei, Anschuldigungen – all das hatte es nicht gegeben, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, denn das wären Gefühlsregungen gewesen.
Der Junge saß
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