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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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er unten auf der Straße stand. Was hatte sie gesehen? Ihren Retter?
    Fast schluchzend vor Kopfschmerzen, schloß er die Tür zu seinem Apartment auf. Der Korridor war dunkel.
    Niemand sah ihn je kommen oder gehen. Er hatte auch keine Angst, daß sie sein Gesicht gesehen haben könnte.
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    Dafür war es zu dunkel gewesen, und die Entfernung zu groß. Aber hatte sie das Leid gesehen?
    Warum war er dort hingegangen? Er zog seinen Mantel aus und ließ ihn einfach fallen. Morgen würde er ihn ordentlich aufhängen und die Wohnung aufräumen, wie er es immer tat, aber jetzt konnte er vor Schmerzen kaum denken.
    Gott prüfte immer die Gerechten.
    Er holte eine Flasche Excedrin aus dem Kühlschrank und zerkaute zwei der Tabletten, deren trockenen, bitteren Geschmack er angenehm fand. In seinem Magen verspürte er die Übelkeit, die sich jetzt jede Nacht einstellte und bis zum Morgen anhielt. Um funktionsfähig zu bleiben, stopfte er sich mit rezeptfreien Medikamenten voll.
    Warum war er dort hingegangen?
    Vielleicht war er im Begriff, wahnsinnig zu werden.
    Vielleicht war alles Wahnsinn. Er streckte die Hand aus und beobachtete, wie sie zitterte. Wenn er sich nicht zusammenriß, würden alle Bescheid wissen. Er erblickte sein verzerrtes Spiegelbild in der Aluminiumhaube des Küchenherds, die er peinlich sauberhielt, so wie man es ihm beigebracht hatte. Unterhalb seines hageren Gesichts sah man den weißen Priesterkragen. Wenn sie ihn jetzt sähen, würden alle Bescheid wissen. Vielleicht wäre dies das Beste. Dann könnte er sich ausruhen, ausruhen und vergessen.
    Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Schädel.
    Nein, er durfte sich nicht ausruhen, er durfte nicht vergessen. Laura brauchte ihn. Er mußte seine Mission erfüllen, damit es um sie endlich licht wurde. Hatte sie ihn nicht gebeten, ihn nicht angefleht, Gott für sie um Vergebung zu bitten?
    Laura hatte ihre Strafe rasch erhalten, eine harte Strafe.
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    Er hatte Gott verflucht und seinen Glauben verloren, aber er hatte das Ganze nie vergessen. Jetzt, nach all den Jahren, hatte sich die STIMME eingestellt und ihm den Weg gezeigt, der zu ihrer Erlösung führte. Vielleicht mußte wieder und wieder eine andere Verlorene an ihrer statt sterben, doch es geschah rasch und war jedesmal mit Absolution verbunden. Bald würde es vorüber sein, für sie alle.
    Er ging in das Schlafzimmer und zündete die Kerzen an.
    Zuckend fiel der Lichtschein auf das eingerahmte Bild der Frau, die er verloren hatte, sowie auf die Bilder der Frauen, die er getötet hatte. Unter einem schwarzen Rosenkranz lag die sorgfältig aus der Zeitung
    ausgeschnittene Fotografie von Dr. Teresa Court.
    Er betete auf lateinisch, wie man es ihm beigebracht hatte.

    Ben brachte ihr einen Dauerlutscher mit roten und gelben Streifen mit, den Tess an der Tür entgegennahm und eingehend betrachtete. Dann schüttelte sie den Kopf.
    »Du verstehst es wirklich, eine Frau aus der Fassung zu bringen. Die meisten Männer schenken Schokolade.«
    »Das ist zu banal. Außerdem habe ich mir gedacht, daß du wahrscheinlich an eine Schweizer Sorte gewöhnt bist, und ich …« Er verstummte, als ihm klar wurde, daß er ins Faseln geraten würde, wenn sie ihn weiterhin so über das runde Zuckerding hinweg anlächelte. »Du siehst heute anders aus.«
    »Tatsächlich? Inwiefern?«
    »Du trägst dein Haar offen.« Er hätte es gern angefaßt, wußte aber, daß er noch nicht soweit war. »Und du hast kein Kostüm an.«
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    Tess warf einen Blick auf den überdimensionalen Pullover und die bequemen Wollhosen, die sie anhatte.
    »Wenn ich mir Horrorfilme ansehe, trage ich
    normalerweise kein Kostüm.«
    »Du siehst gar nicht mehr wie ein Psychiater aus.«
    »Doch, tu ich. Ich seh bloß nicht so aus, wie du dir einen vorstellst.« Jetzt berührte er doch ihr Haar, wenn auch nur ein wenig. Sie mochte die Art und Weise, in der er das tat.
    Es war eine Geste, die sowohl freundlich als auch verhalten wirkte.
    »So hast du noch nie ausgesehen.«
    Da sie einen Moment brauchte, um ihre Gedanken zu ordnen, legte sie den Dauerlutscher neben einen Teller aus Meißner Porzellan auf den Tisch und ging zum
    Wandschrank, um eine Jacke herauszuholen. »Und wie stellst du dir einen Psychiater vor?«
    »Bleich, hager und glatzköpfig.«
    »Hmmm.«
    Die Jacke war aus Wildleder und weich wie Samt. Er hielt sie ihr, während sie hineinschlüpfte. »Du riechst auch nicht wie ein Psychiater.«
    Sie lächelte ihn über die Schulter an.

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