Verlorene Seelen
einfach nur da und gab seine einsilbigen Antworten, die keine waren. Sein Vater hatte nicht angerufen. Tess hatte die Wut in den Augen der Mutter gesehen, während die Augen des Sohnes lediglich verrieten, daß er das Ganze äußerlich unbewegt hinnahm.
Auf seine verhaltene, sture Weise hielt Joey daran fest, daß er ein Wochenende – das Erntedankfestwochenende –
mit seinem Vater verbringen würde.
Er würde eine Enttäuschung erleben. Tess preßte die Finger gegen die Augen, bis das Brennen nachließ und zu einem dumpfen Schmerz wurde. Diese neuerliche
Enttäuschung konnte eine Enttäuschung zuviel sein.
Joey Higgins war in höchstem Maße anfällig für Alkoholismus, Drogensucht und Selbstzerstörung. Die Monroes sahen nur bestimmte Dinge, erlaubten ihr nur, bis zu einem gewissen Punkt zu gehen. Als Tess einen Klinikaufenthalt vorschlug, hatte sie auf Granit gebissen.
Joey brauche einfach Zeit, er brauche eine intakte Familie, er brauche … Hilfe, dachte Tess. Und zwar dringend. Sie war längst nicht mehr davon überzeugt, daß eine wöchentliche Sitzung zu irgendeinem Durchbruch führen würde.
Der Stiefvater, überlegte sie – vielleicht schaffte sie es, ihm den Ernst der Lage begreiflich zu machen. Vielleicht konnte sie ihm die Notwendigkeit, Joey vor sich selbst zu schützen, vor Augen führen. Sie kam zu dem Schluß, daß der nächste Schritt darin bestehen mußte, mit Monroe allein zu sprechen.
Heute nacht konnte sie nichts mehr tun. Sie beugte sich vor, um den Aktenordner zu schließen, und warf dabei 136
einen Blick aus dem Fenster. Eine einsame Gestalt, die auf der einsamen Straße stand, erregte ihre Aufmerksamkeit.
In diesem Teil von Georgetown, mit den gepflegten Blumenrabatten vor den ehrwürdigen Apartmenthäusern aus rötlichbraunem Sandstein, gab es eigentlich keine Obdachlosen oder Vagabunden. Doch es sah so aus, als stünde der Mann schon lange dort. In der Kälte, allein.
Nach oben blickend … zu ihrem Fenster. Als Tess das klar wurde, wich sie automatisch zurück.
Das ist doch albern, sagte sie sich, schaltete jedoch ihre Schreibtischlampe aus. Niemand hätte einen Grund, an der Straßenecke zu stehen und zu ihrem Fenster
hochzustarren. Trotzdem stand sie im Dunkeln auf, ging zum Rand des Fensters und schob den Vorhang ein Stück zur Seite.
Er stand einfach nur da, ohne sich zu rühren, und sah nach oben. Sie bildete sich ein, daß er sie direkt anblicke, eine törichte Vorstellung, da sie sich im dritten Stock befand, in einem dunklen Zimmer. Gleichwohl überlief es sie kalt.
Einer meiner Patienten? überlegte sie. Aber sie achtete stets sorgfältig darauf, ihre Privatadresse geheimzuhalten.
Ein Reporter. Bei dem Gedanken ließ ihre Angst ein wenig nach. Wahrscheinlich war es ein Reporter, der hoffte, irgend etwas Neues herausfinden zu können. Um zwei Uhr morgens? fragte sie sich und ließ den Vorhang los.
Es hat nichts zu bedeuten, beruhigte sie sich. Sie hatte sich nur eingebildet, daß er zu ihrem Fenster hochschaute.
Es war dunkel, und sie war müde. Es war nur jemand, der darauf wartete, daß ihn jemand im Auto mitnahm, oder …
Nicht in dieser Gegend. Sie streckte erneut die Hand nach dem Vorhang aus, konnte sich aber nicht dazu 137
durchringen, ihn zur Seite zu schieben.
Bald würde er wieder zuschlagen. War das nicht der Gedanke gewesen, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war und sie in Angst versetzt hatte? Er litt, stand unter Zwang und hatte eine Mission zu erfüllen.
Blondinen, Ende Zwanzig, klein bis mittelgroß.
Sie legte die Hand an die Kehle.
Hör auf damit. Sie ließ die Hand wieder sinken und griff nach dem Saum des Vorhangs. Mit einem leichten Anfall von Verfolgungswahn war leicht fertig zu werden. Außer einem sexhungrigen Psychoanalytiker und ein paar sensationslüsternen Reportern war niemand hinter ihr her.
Sie war nicht draußen auf der Straße, sondern in ihrer abgeschlossenen Wohnung. Sie war müde und
überarbeitet und bildete sich allerlei ein. Es war höchste Zeit, für heute Schluß zu machen, sich ein Glas kühlen Weißweins einzuschenken, die Stereoanlage anzuschalten und sich in ein heißes Schaumbad sinken zu lassen.
Trotzdem zitterte ihre Hand ein wenig, als sie den Vorhang zur Seite schob.
Die Straße war leer.
Als Tess den Vorhang losließ, fragte sie sich, warum sie das nicht beruhigte.
Sie hatte zu ihm nach draußen geblickt. Irgendwie hatte er das gemerkt und gespürt, wie ihre Augen sich auf ihn richteten, als
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