Verlorene Seelen
Zunge über die Zähne. »Gern.«
Sie war durchaus in Stimmung für Musik, vielleicht etwas Bluesmäßiges, mit einem schluchzenden
Tenorsaxophon. »Ich nehme an, daß du von Berufs wegen mit den Bars der Stadt bestens vertraut bist.«
»Ich kenne mich einigermaßen aus.« Er drückte den Zigarettenanzünder rein. »Du bist kein Bartyp.«
Neugierig sah sie ihn an. Sein Profil war nur in Umrissen zu erkennen, doch von Zeit zu Zeit fiel das Licht der Straßenlaternen darauf. Es war seltsam, daß er manchmal zuverlässig und solide aussah, ganz wie ein Mann, zu dem eine Frau sich flüchten würde, wenn es dunkel ist. Dann wiederum fiel das Licht in einem anderen Winkel auf sein Gesicht und hob die Kanten und Ecken hervor. Vor einem solchen Mann würde eine Frau 144
flüchten. Sie verdrängte den Gedanken. Sie hatte es sich zum Vorsatz gemacht, Männer, mit denen sie ausging, nicht zu analysieren. Zu oft erfuhr man dabei mehr, als man wissen wollte.
»Gibt es da einen Typ?«
»Ja.« Und er kannte ihn nur zu gut. »Du gehörst jedenfalls nicht dazu. Hotel Lounge. Champagnercocktails im Mayflower oder im Hotel Washington. Das ist dein Stil.«
»Wer erstellt denn jetzt psychologische Profile, Detective?«
»In meinem Job muß man in der Lage sein, den Typ von Menschen zu bestimmen.« Er hielt an und parkte zwischen einer Honda mit Beiwagen und einem Chevette mit Hecktür ein. Bevor er den Motor abstellte, fragte er sich, ob er einen Fehler machte.
»Wo sind wir denn hier?«
»Hier …« Er zog den Schlüssel ab, behielt ihn jedoch in der Hand. »… wohne ich.«
Sie blickte aus dem Fenster und sah ein vierstöckiges Apartmenthaus mit verblichener Ziegelsteinfassade und grünen Markisen. »Oh.«
»Ich habe aber keinen Champagner.«
Ihre Entscheidung. Sie verstand ihn gut genug, um das zu begreifen. Aber ansonsten verstand sie ihn kaum. Im Auto war es warm und ruhig. Hier war sie sicher. Was sie in der Wohnung erwartete, wußte sie nicht. Sie kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, wie selten sie Risiken einging. Vielleicht war es an der Zeit, es zu tun.
»Hast du Scotch?« Sie drehte sich zur Seite und sah, wie er lächelte.
»Klar.«
145
»Das reicht völlig.«
Als sie aus dem Wagen stieg, wurde sie von eisiger Luft empfangen. Der Winter wird sich nicht nach dem Kalender richten, dachte sie. Dann fiel ihr ein anderer Kalender ein – einer, auf dessen Vorderseite die Madonna mit dem Jesuskind abgebildet war –, und es schauderte sie.
Der leichte Anfall von Angst veranlaßte sie, die Straße hinabzublicken. Einen Block entfernt explodierte der Vergaser eines Lastwagens.
»Komm schon.« Ben stand direkt unter einer
Straßenlaterne, deren Licht sein kantiges Gesicht erhellte.
»Dir ist kalt.«
»Ja.« Als er ihr seinen Arm um die Schultern legte, schauderte es sie von neuem.
Er führte sie ins Haus. An der Wand befand sich etwa ein Dutzend Hausbriefkästen. Der hellgrüne Teppich war sauber, aber ziemlich abgetreten. Es gab kein Vestibül, keinen Sicherheitsbeamten, der an einem Pult saß, nur ein halbdunkles Treppenhaus.
»Das ist ja ein ruhiges Haus«, sagte sie, während sie in den zweiten Stock stiegen.
»Hier kümmert sich jeder nur um seine eigenen
Angelegenheiten.«
Als er im Korridor stehenblieb, um seine Wohnungstür aufzuschließen, war ein leichter Essensgeruch
wahrzunehmen. Das funzlige Treppenlicht flackerte.
Sein Apartment war ordentlicher, als sie erwartet hatte.
Das lag, wie Tess erkannte, nicht nur an dem Bild, das man sich gemeinhin von einem alleinlebenden Mann machte. Ben schien in anderen Bereichen zu zwanglos und salopp zu sein, um sich mit Staubwischen oder Aufräumen abzugeben. Dann kam sie zu dem Schluß, daß sie sich irrte. Das Zimmer mochte zwar sauber sein, spiegelte aber 146
durchaus seine Wesensart wider.
Das vorherrschende Möbelstück war ein niedriges, keineswegs neues Sofa, das mit kleinen Kissen übersät war. Eine richtige Dagwood-Couch, dachte Tess, die einen förmlich einlud, sich zu entspannen und ein Nickerchen zu machen. An den Wänden hingen keine Gemälde, sondern Poster. Toulouse Lautrecs Cancan-Tänzerinnen, ein einzelnes Frauenbein in einem hochhackigen Schuh, am Schenkel von weißer Spitze bedeckt. In einem
Margarinebecher aus Plastik blühte eine Dieffenbachie vor sich hin. Und dann waren da Bücher, fast eine ganze Wand voll. Entzückt zog sie eine abgegriffene
Hardcoverausgabe von Jenseits von Eden aus dem Regal.
Während Ben ihr die
Weitere Kostenlose Bücher