Verlorene Seelen
Bett gebeugt da und betrachtete die schlafende Tess. Als Ben leise aus dem Zimmer ging, kam die Katze
hereingeschlichen.
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Ärzte und Polizisten. Die einen wie die anderen wissen, daß ihr Arbeitstag selten um neun beginnt oder um fünf endet. Ihnen ist klar, daß sie einen Beruf gewählt haben, bei dem die Scheidungsrate hoch ist und in dem viele psychisch kaputtgehen. Ihr Beruf stellt zahlreiche Anforderungen und bringt extreme emotionale Strapazen mit sich. Daß man immer wieder von Anrufen gestört wird
– bei Dinnerpartys, beim Sex oder im Schlaf –, gehört zum Job mit dazu.
Als das Telefon klingelte, streckte Tess mechanisch die Hand aus und bekam einen Kerzenleuchter zu fassen. Der auf der anderen Seite des Bettes liegende Ben fluchte und warf einen Aschenbecher um, bevor er das Telefon fand.
»Ja, Paris.« Er fuhr sich in der Dunkelheit mit der Hand übers Gesicht, als wolle er den Schlaf wegwischen.
»Wo?«
Sofort war er hellwach und knipste die Nachttischlampe an. Die Katze, die zusammengerollt auf Tess’ Bauch lag, murrte unwillig und sprang herunter, als Tess sich auf den Ellbogen aufrichtete. »Behaltet ihn da. Ich komme sofort.«
Ben legte auf und starrte auf die mit Reif überzogenen Fensterscheiben.
»Er hat nicht gewartet, nicht wahr?«
Als er sich ihr zudrehte, fiel das Licht grell auf sein Gesicht. Unwillkürlich fröstelte sie. Sein Blick war hart –
nicht müde, nicht kummervoll, sondern hart. »Nein, er hat nicht gewartet.«
»Haben sie ihn erwischt?«
»Nein, aber es sieht so aus, als hätten wir einen 157
Augenzeugen.« Während er sich aus dem Bett wälzte, schnappte er sich seine Jeans. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber du kannst hier warten und noch ein bißchen schlafen. Ich erzähle dir alles, wenn … Was machst du denn da?«
Sie stand bereits auf der anderen Seite des Bettes und zog ihren Pullover an. »Ich komme mit.«
»Schlag dir das aus dem Kopf.« Er schlüpfte in die Jeans, die er aber noch offenließ, während er eine Schublade aufzog, um nach einem Pullover zu suchen.
»Am Tatort eines Mordes gibt es nichts für dich zu tun. Da bist du nur im Wege.« Im Spiegel über seinem
Toilettentisch sah er, wie ihr Kopf hochschnellte. »Es ist noch nicht mal fünf, Herrgott noch mal. Geh wieder ins Bett.«
»Ben, ich arbeite an diesem Fall mit.«
Er drehte sich um. Sie trug nur ihren Pullover, der ihr bis zu den Schenkeln reichte. Ihm fiel ein, wie weich sich das dicke Material angefühlt hatte, als er ihn ihr ausgezogen hatte. Ihre Hose hielt sie zusammengeknüllt in der Hand, ihr Haar war zerzaust, doch es war die Psychiaterin, die ihm gegenüberstand, nicht die Frau. Irgend etwas in ihm erstarrte. Er streifte seinen Pullover über, dann ging er zum Wandschrank, um sein Schulterhalfter zu holen.
»Hier geht es um Mord. Das ist was anderes, als sich jemanden anzusehen, der hübsch zurechtgemacht im Sarg liegt.«
»Ich bin Ärztin.«
»Ich weiß, was du bist.« Er überprüfte seine Pistole und legte das Schulterhalfter an.
»Ben, vielleicht entdecke ich etwas, irgendein Detail, das mir einen Hinweis auf sein Gemütsleben gibt.«
»Scheiß auf sein Gemütsleben!«
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Ohne etwas zu entgegnen, schüttelte sie ihre Hosen aus, zog sie an und knöpfte sie zu. »Ich verstehe, wie dir zumute ist, und es tut mir leid.«
»Ah ja?« Er setzte sich, um seine Schuhe anzuziehen, sah sie aber weiterhin an. »Du meinst zu wissen, wie mir zumute ist? Nun, ich will es dir trotzdem sagen. Ein paar Meilen von hier entfernt liegt eine tote Frau. Jemand hat ihr einen Schal um den Hals gelegt und ihn
zusammengezogen, bis sie nicht mehr atmen konnte. Sie wird um sich getreten und mit den Händen am Schal gezerrt und vergeblich versucht haben zu schreien. Jetzt ist sie tot, aber sie ist immer noch ein Mensch, kein bloßer Name auf einer Liste. Für ein Weilchen ist sie noch ein Individuum.«
Am liebsten hätte sie seine Hand genommen, aber sie wußte, daß er das auf keinen Fall zulassen würde. Statt dessen machte sie ihren Gürtel zu und sagte mit neutraler Stimme: »Glaubst du nicht, daß ich das verstehe?«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
Schweigend sahen sie sich eine Weile an – zwei engagierte, frustrierte Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Anschauungen. Es war Tess, die sich als erste damit abfand. »Entweder du nimmst mich jetzt mit, oder ich rufe den Bürgermeister an und bin fünf Minuten nach dir da. Früher
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