Verlorene Seelen
noch nicht viel aus ihm herausbekommen. Bisher war er vor allem damit beschäftigt, ungefähr einen halben Kasten Bier auszukotzen.« Rasch blickte er zu Tess hin.
»Entschuldigung.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Ben kurz angebunden. »Sonst erinnert sie dich daran, daß sie Ärztin ist.«
»Der Captain kommt auch.«
»Na, großartig.« Ben schnippte seinen
Zigarettenstummel auf die Straße. »Dann wollen wir mal.«
Als sie auf die Gasse zugingen, kamen sie an einem Streifenwagen vorbei, auf dessen Rücksitz jemand schluchzte. Tess zog es automatisch zu den verzweifelten Lauten hin, doch dann streifte ihr Arm den Bens, und sie setzte ihren Weg in Richtung Gasse fort, aus der gerade ein kleiner Mann mit Hornbrille und Kamera trat. Er zog 162
ein blaues Taschentuch heraus und rieb sich damit über die Nase.
»Ich bin fertig. Seht bloß zu, daß ihr den erwischt. Ich will keine toten Blondinen mehr fotografieren. Ein bißchen Abwechslung muß schließlich jeder bei seiner Arbeit haben.«
»Du bist zum Schreien, Sly.« Ben drängte sich an ihm vorbei, während der Fotograf in sein Taschentuch schneuzte.
Kaum hatten sie die Gasse betreten, da stieg ihnen der Geruch des Todes in die Nase. Sie alle erkannten ihn wieder, diesen scharfen, fauligen Gestank, den die meisten Menschen ekelhaft, gleichzeitig jedoch auch merkwürdig faszinierend finden.
Ihr Körper hatte sich entleert. Ihr Blut hatte aufgehört zu fließen. Ihre Arme waren ordentlich über Kreuz gelegt, aber sie sah nicht so aus, als ruhe sie in Frieden. Ihre blicklosen Augen waren aufgerissen. Ihr Kinn war mit geronnenem Blut beschmiert. Ihr eigenes, dachte Tess. Im Todeskampf hatte sie sich die Unterlippe durchgebissen.
Sie trug einen langen, strapazierfähigen Wollmantel in olivgrauer Farbe, von dem sich das weiße Seidenhumerale deutlich abhob. Es war von ihrem Hals, wo sich bereits blaue Flecken gebildet hatten, entfernt worden und lag glattgestrichen über ihren Brüsten.
Auch der Zettel war wieder an die Kleidung geheftet, mit der gleichen Botschaft wie zuvor.
Ihre Sünden sind ihr vergeben.
Doch diesmal war die Schrift nicht mehr sauber und ordentlich, sondern zittrig, und das Papier war ein wenig zerknittert, als hätten seine Hände es zerdrückt. Das Wort Sünden war größer als die übrigen Wörter, die Bleistiftspuren dunkler, fast durchs Papier gehend. Tess 163
hockte sich neben die Leiche, um sich alles genauer anzusehen.
Ein Hilfeschrei? fragte sie sich. Flehte er irgend jemanden an, ihn daran zu hindern, wieder zu sündigen?
Die zittrige Handschrift war eine – wenn auch
geringfügige Abweichung vom bisher Üblichen. Tess folgerte daraus, daß er allmählich die Kontrolle über sich verlor, vielleicht sogar an sich selbst zweifelte, während er seine Mission erfüllte.
Sie kam zu dem Schluß, daß er sich diesmal seiner Sache nicht mehr so sicher gewesen war. Sein Inneres wurde immer mehr zu einem ausweglosen Durcheinander von Gedanken, Erinnerungen und Stimmen. Er muß
entsetzliche Angst haben, dachte sie, und mit ziemlicher Sicherheit ist er jetzt auch physisch krank.
Der Mantel des Opfers war offen. Da es in der Gasse ziemlich windstill war, konnte er nicht durch einen Windstoß aufgegangen sein. Er hatte ihre Kleidung also nicht in Ordnung gebracht wie bei den anderen. Vielleicht war er dazu nicht imstande gewesen.
Dann sah sie die Ansteckplakette, die sich von dem olivfarbenen Tuch abhob, ein goldenes Herz, auf dem in Schnörkelschrift der Name Anne stand. Sie hatte also Anne geheißen. Eine Welle des Mitleids durchströmte Tess, Mitleid mit Anne und mit dem Mann, den es dazu getrieben hatte, sie zu töten.
Ben sah, wie sie die Leiche studierte – nüchtern, leidenschaftslos und ohne Abscheu. Er hatte sie von der Realität des Todes fernhalten wollen, doch gleichzeitig wollte er sie auch mit der Nase hineindrücken, bis sie in Tränen ausbrach und wegrannte.
»Hast du dir alles genau angesehen, Frau Doktor?
Würdest du dann wohl zur Seite treten, damit wir unsere 164
Arbeit machen können?«
Sie blickte zu Ben hoch. Dann erhob sie sich langsam.
»Er ist fast am Ende seiner Kräfte. Ich glaube, viel mehr kann er nicht aushalten.«
»Erzähl ihr das mal.«
»Der Junge hat überall hingekotzt«, sagte Ed munter und atmete durch den Mund, um den Gestank nicht in die Nase zu bekommen. Mit einem Bleistift öffnete er die Brieftasche der Frau, die aus ihrer Handtasche gefallen war. »Anne
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