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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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Reasoner«, las er vor, während er die Angaben auf ihrem Führerschein studierte.
    »Siebenundzwanzig. Wohnt in der M Street, ungefähr einen Block weiter.«
    Einen Block weiter, dachte Tess. Einen Block näher an ihrem eigenen Apartment. Sie preßte die Lippen zusammen und blickte die Gasse entlang, bis ihre Angst sich wieder legte. »Das Ganze ist ein Ritual«, sagte sie mit gefaßter Stimme. »Nach allem, was ich gelesen habe, sind Rituale, Riten und Traditionen ein wesentlicher Bestandteil des Katholizismus. Er vollzieht hier sein eigenes Ritual. Er rettet sie, dann erteilt er ihnen Absolution und läßt dies bei ihnen zurück.« Sie zeigte auf das Humerale. »Das Symbol ebendieser Rettung und Absolution. Er faltete das Humerale jedesmal auf genau die gleiche Weise zusammen. Er legt ihren Körper jedesmal auf genau die gleiche Weise hin. Aber diesmal hat er ihre Kleidung nicht in Ordnung gebracht.«
    »Spielst du Detektiv?«
    Tess ballte die Hände in den Taschen und bemühte sich, Bens Sarkasmus zu ignorieren. »Das ist Ergebenheit, blinde Ergebenheit gegenüber der Kirche. Er ist besessen vom Ritual. Doch die Handschrift zeigt, daß er anfängt, das, was er tut – was er tun muß –, in Frage zu stellen.«
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    »Na, prima.« Eine irrationale Wut befiel ihn angesichts ihrer Ungerührtheit. Ben kehrte ihr den Rücken zu und beugte sich über die Leiche. »Warum gehst du nicht zum Auto zurück, um das alles aufzuschreiben? Wir werden dein Sachverständigengutachten dann an ihre Familie weiterreichen.«
    Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, den verletzten Ausdruck, der in ihre Augen trat und nach und nach von Zorn verdrängt wurde. Aber er hörte sie davongehen.
    »Das war ziemlich grob.«
    Auch seinen Partner sah Ben nicht an, sondern die Frau, die Anne geheißen hatte und ihn mit blicklosen Augen anstarrte. Dienen und schützen. Niemand hatte Anne Reasoner geschützt.
    »Sie gehört nicht hierher«, murmelte er und dachte dabei ebensosehr an Anne Reasoner wie an Tess. Er schüttelte den Kopf, während er immer noch die Haltung des Körpers studierte, die an die Pose einer Heiligen erinnerte.
    »Was hatte sie mitten in der Nacht in einer Gasse zu tun?«
    Einer Gasse, die nahe bei Tess’ Apartment lag – zu nahe.
    »Vielleicht gar nichts.«
    Mit zusammengezogenen Augenbrauen hob Ben eines ihrer Beine an. Sie trug Slipper, die Sorte, die die Collegezeit, die erste Ehe und die erste Scheidung überdauert. Das Leder schmiegte sich wie ein Handschuh um ihren Fuß und war gut poliert. Am Hacken waren frische Kratz und Schabspuren.
    »Er hat sie also auf der Straße umgebracht und hierher geschleift.« Ben sah Ed an, der sich hinhockte und den anderen Schuh untersuchte. »Er hat sie draußen auf der Straße erdrosselt. Verdammt noch mal, in dieser Gegend stehen im Abstand von fünf Metern Laternen. Alle dreißig Minuten fährt ein Streifenwagen vorbei, und er bringt sie 166
    auf der Straße um.« Er betrachtete ihre Hände. Die Nägel waren mittellang und gepflegt. Nur drei waren
    abgebrochen. Der korallenfarbene Nagellack war an keiner Stelle abgeblättert. »Sieht nicht so aus, als hätte sie sich sehr gewehrt.«

    Der Himmel färbte sich grau, ein verwaschenes, milchiges Grau, das eine dichte Wolkendecke und kalten
    Herbstregen ankündigte. Reizlos und unschön breitete sich die Morgendämmerung über der Stadt aus.
    Sonntagmorgen. Die Leute konnten ausschlafen. Manch ein Katzenjammer braute sich zusammen. Bald würden die ersten Gottesdienste beginnen, mit einer verschlafenen, wochenendgestreßten Gemeinde.
    Tess lehnte an der Motorhaube von Bens Auto. Die Wildlederjacke war in der frostigen Dämmerung nicht warm genug, doch sie war zu ruhelos, um sich in den Wagen zu setzen. Sie sah einen rundlichen Mann mit Arzttasche, unter dessen wehendem Mantel
    blaugemusterte Pyjamahosen zu sehen waren, in die Gasse eilen. Der Tag des Coroners hatte früh angefangen.
    Von irgendwoher war das knirschende metallische Geräusch eines Lastwagens zu hören, bei dem ein anderer Gang eingelegt wurde. Ein Taxi fuhr vorüber, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Einer der Streifenpolizisten brachte einen großen Styroporbecher, aus dem nach Kaffee duftender Dampf aufstieg, und reichte ihn der auf dem Rücksitz des Streifenwagens sitzenden Gestalt.
    Tess blickte wieder in Richtung Gasse. Sie hatte sich wacker gehalten, obwohl ihr Magen jetzt rebellierte. Sie war sachlich und profihaft gewesen, wie sie es sich vorgenommen hatte.

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