Verlorene Seelen
oder später mußt du anfangen, mit mir zusammenzuarbeiten.«
Er hatte gerade die Nacht mit ihr verbracht. Er hatte sich in den vergangenen Stunden dreimal in sie ergossen. Er hatte ihren zuckenden, bebenden, sich aufbäumenden Körper gespürt. Jetzt sprachen sie über Mord und politische Winkelzüge. Das weiche, ja scheue weibliche Wesen, mit dem er ins Bett gegangen war, war zwar noch da, aber dahinter verbarg sich ein zäher, harter Kern, ein 159
Selbstbewußtsein, das er von Anfang an erkannt hatte. Als er sie musterte, wurde ihm klar, daß sie auf jeden Fall zum Tatort fahren würde, ganz gleich, was er sagen oder tun mochte.
»Na schön. Dann komm mit und sieh dir alles genau an.
Wenn du sie gesehen hast, hörst du vielleicht auf, den Mann, der sie abgemurkst hat, zu bemitleiden.«
Sie bückte sich, um sich die Schuhe anzuziehen.
Zwischen ihnen befand sich das Bett, aber es war, als hätten sie es nie miteinander geteilt. »Es hat wohl keinen Sinn, dich daran zu erinnern, daß ich auf deiner Seite stehe.«
Ohne etwas zu erwidern, griff er nach seiner Brieftasche und seiner Dienstmarke. Tess sah ihre Ohrringe auf seinem Nachttisch liegen, eine kleine Sache von großer Intimität. Rasch nahm sie die Ohrringe an sich und steckte sie in die Tasche. »Wo müssen wir hin?«
»Zu einer Gasse in der Nähe der Twenty-third und der M
Street.«
»Twenty-third und M Street? Das ist ja nur ein paar Blocks von meiner Wohnung entfernt.«
Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie anzusehen.
»Ich weiß.«
Die Straßen waren menschenleer. Um eins machten die Bars zu, die meisten Privatpartys gingen normalerweise gegen drei zu Ende. Washington war eine politische Stadt, und obwohl die dortigen Nachtlokale vom Elitären bis zum Schäbigen reichten, hatte die Stadt nicht die Energie New Yorks oder Chicagos. Der Drogenhandel in der Nähe der Fourteenth und der U Street war eine Welt für sich.
Selbst die Nutten hatten schon Feierabend gemacht.
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Ab und an trieb ein Windstoß die von den Bäumen gefallenen Blätter auf dem Bürgersteig vor sich her. Sie fuhren an dunklen Ladenfronten und Boutiquen vorbei, in deren Schaufenstern Pullover in schreienden Farben ausgestellt waren. Ben zündete sich eine Zigarette an. Der vertraute Geschmack des Virginiatabaks ließ seine Spannung ein wenig abklingen.
Er wollte nicht, daß sie mitkam. Ob sie nun Ärztin war oder nicht, er wollte nicht, daß sie an der deprimierenden Häßlichkeit, die Teil seines Jobs war, teilhatte. Sie konnte mitarbeiten, wenn es um Papierkram ging, ums
Zusammensetzen der Puzzleteile, um die logisch aufeinanderfolgenden Schritte der Ermittlung, aber hier durfte sie nicht dabeisein.
Sie mußte einfach dabeisein, fand Tess. Die Zeit war gekommen, den Folgen ins Auge zu sehen. Vielleicht –
wenn auch nur vielleicht – wäre sie dann imstande, die Motivation des Mörders besser zu verstehen. Sie war Ärztin. Dabei war es unerheblich, daß sie keine praktische Ärztin war. Sie war geschult, sie war kompetent, und sie wußte über den Tod Bescheid.
Als Tess das blaue und rote Licht des ersten Polizeiautos sah, zwang sie sich, langsam und gleichmäßig ein- und auszuatmen.
Die Gasse und ihre Umgebung waren abgesperrt,
obwohl sich zu dieser frühen Morgenstunde niemand auf der Straße befand. Überall standen Streifenwagen mit blinkendem Licht und eingeschalteten Funksprechgeräten.
Innerhalb des abgesperrten Bereichs waren bereits verschiedene Leute zugange.
Ben hielt am Bordstein an. »Bleib immer dicht bei mir«, sagte er zu Tess, sah sie jedoch immer noch nicht an. »Wir dulden es nämlich grundsätzlich nicht, daß Zivilpersonen 161
auf dem Schauplatz eines Mordes herumwandern.«
»Ich habe nicht die Absicht, euch in die Quere zu kommen. Ich will nur meinen Job machen. Du wirst sehen, daß ich dabei genauso gut bin wie du in deinem.« Sie stieg aus und stieß beinahe mit Ed zusammen.
»Pardon, Dr.
Court.« Ihre Hände waren eisig.
Automatisch tätschelte er sie. »Sie werden Ihre Handschuhe brauchen.« Seine eigenen steckte er in die Taschen, während er Ben ansah.
»Wie sieht’s aus?« erkundigte sich Ben.
»Die Jungs vom Labor sind gerade bei der Arbeit. Sly macht Fotos. Der Coroner ist unterwegs.« Der Atem kam in weißen Wölkchen aus Eds Mund. Seine Ohrläppchen waren bereits rot vor Kälte, und er hatte vergessen, seinen Mantel zuzuknöpfen. »Ein junger Mann hat sie gegen vier Uhr dreißig entdeckt. Die Uniformierten haben
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