Verlorene Seelen
eine Chance gibt. Mr. Monroe, ich kann Ihnen die Wahrheit nicht verschweigen. Joey spricht auf die Behandlung nicht an.«
»Er trinkt doch nicht etwa wieder?«
»Nein, das tut er nicht.« Wie konnte sie ihm bloß begreiflich machen, daß die Linderung eines Symptoms sehr wenig mit Heilung zu tun hatte? Schon bei den therapeutischen Familiengesprächen war ihr bewußt geworden, daß Monroe ein Mann war, der Ergebnisse wesentlich klarer zu erkennen vermochte als Ursachen.
»Mr. Monroe, Joey ist Alkoholiker und wird es immer sein, ob er nun trinkt oder nicht. Er ist eines der achtundzwanzig Millionen Kinder von Alkoholikern, die es in diesem Land gibt. Ein Drittel von ihnen wird selbst zu Alkoholikern, wie es bei Joey passiert ist.«
»Aber er trinkt doch nicht«, sagte Monroe hartnäckig.
»Nein, das tut er nicht.« Sie verschränkte ihre Finger und legte sie auf die Schreibunterlage. Dann versuchte sie es noch einmal. »Er konsumiert keinen Alkohol, er verändert seine Wirklichkeit nicht mit Alkohol, aber er muß sich nach wie vor mit seiner Abhängigkeit auseinandersetzen und – was noch wichtiger ist – mit den Ursachen dieser Abhängigkeit. Er betrinkt sich nicht, Mr. Monroe, aber der Alkoholismus war eine Folge anderer Probleme, mit dem ebendiese Probleme kaschiert werden sollten. Diese Probleme kann er nicht mehr mit Alkohol in den Griff bekommen oder verdrängen, und jetzt erdrücken sie ihn.
Er zeigt keinen Zorn, Mr. Monroe, keine Wut und sehr wenig Kummer, obwohl das alles in ihm aufgestaut ist.
Kinder von Alkoholikern fühlen sich oft für die Krankheit ihres Vaters oder ihrer Eltern verantwortlich.«
Voller Unbehagen rutschte Monroe auf seinem Stuhl hin 213
und her. »Das haben Sie schon mal erklärt«, sagte er ungehalten.
»Ja, das habe ich. Joey grollt seinem Vater, und in hohem Maße grollt er auch seiner Mutter, weil ihn beide enttäuscht haben. Sein Vater durch seine Trunksucht, seine Mutter dadurch, daß sie ganz von der Trunksucht seines Vaters in Anspruch genommen wurde. Da er sie beide liebt, hat er diesen Groll gegen sich selbst gerichtet.«
»Lois hat ihr möglichstes getan.«
»Ja, davon bin überzeugt, Sie ist eine bemerkenswert starke Frau. Unglücklicherweise besitzt Joey nicht ihre Kraft. Joeys Depressionen haben ein gefährliches, ein kritisches Stadium erreicht. Selbst Ihnen kann ich nicht verraten, was bei unseren letzten Sitzungen besprochen wurde, aber ich kann Ihnen sagen, daß mir sein Gemütszustand größere Sorge denn je bereitet. Er leidet entsetzlich. Im Moment mache ich kaum etwas anderes, als sein Leid ein wenig zu lindern, damit er die Woche bis zur nächsten Sitzung durchsteht. Joey hat das Gefühl, sein Leben sei nichts wert, er hat das Gefühl, als Sohn, als Freund, als Mensch versagt zu haben.«
»Die Scheidung …«
»Bei einer Scheidung werden die betroffenen Kinder immer in Mitleidenschaft gezogen. In welchem Maße das geschieht, hängt von dem Gemütszustand ab, in dem sich die Kinder zu dem Zeitpunkt befinden, von der Art und Weise, in der die Scheidung durchgeführt wird, und von der emotionalen Kraft des einzelnen Kindes. Für manche Kinder ist das Ganze so niederschmetternd wie ein Todesfall. Gewöhnlich tritt dann eine Phase des Kummers, der Verbitterung, ja, der Verweigerung ein. Auch daß sie sich selbst die Schuld geben, kommt häufig vor.
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Mr. Monroe, es ist jetzt fast drei Jahre her, daß Ihre Frau sich von Joeys Vater getrennt hat. Seine Fixiertheit auf die Scheidung und seinen Anteil daran ist nicht normal. Sie ist zum Auslöser all seiner Probleme geworden.«
Sie schwieg einen Moment und verschränkte erneut die Hände. »Sein Alkoholismus ist eine Qual für ihn. Joey glaubt, daß er diese Qual verdient. Es ist sogar so, daß er sie bereitwillig auf sich nimmt, so wie ein kleines Kind, das unartig gewesen ist, bereitwillig seine Bestrafung akzeptiert. Die Bestrafung und die Qual vermitteln ihm das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein, während ihm sein Alkoholismus gleichzeitig das Gefühl gibt, von der Gesellschaft isoliert zu sein. Er hat gelernt, sich auf diese Isolation einzustellen, sich selbst als jemanden zu sehen, der anders ist und an alle übrigen nicht heranreicht.
Besonders an Sie nicht.«
»An mich? Das verstehe ich nicht.«
»Joey identifiziert sich mit seinem Vater, einem Trinker, einem Versager im beruflichen wie im familiären Bereich.
Sie sind alles, was sein Vater – und folglich auch Joey –
nicht ist.
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