Verlorene Seelen
Ein Teil von ihm möchte sich von seinem Vater lösen und sich Sie zum Vorbild nehmen. Der Rest seiner Persönlichkeit fühlt sich dessen einfach nicht würdig, und er fürchtet sich vor einem weiteren Fehlschlag. Es ist sogar noch schlimmer, Mr. Monroe. Joey nähert sich mit großer Geschwindigkeit dem Punkt, wo er es satt haben wird, sich überhaupt mit dem Leben abzugeben.«
Seine Finger krampften sich in einem fort zusammen.
Als er etwas sagte, tat er es jedoch mit seiner gelassenen Aufsichtsratsstimme. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Selbstmord ist bei Jugendlichen die dritthäufigste Todesursache, Mr. Monroe. Joey neigt ganz eindeutig dazu. Er spielt bereits mit dem Gedanken und umkreist das 215
Thema, fasziniert, wie er vom Okkulten ist. An diesem Punkt in seinem Leben bedürfte es nur einer Kleinigkeit, um ihn den letzten Schritt machen zu lassen – eine Auseinandersetzung, die ihn rebellisch werden läßt, oder eine Klassenarbeit in der Schule, die ihm das Gefühl gibt, nichts zu können. Oder das abweisende Verhalten seines Vaters.«
Obwohl ihre Stimme ruhig blieb, teilte sich ihm die dahintersteckende Eindringlichkeit mit. In der Hoffnung, noch einen Schritt weiterzukommen, beugte Tess sich vor.
»Mr. Monroe, ich kann gar nicht stark genug betonen, wie wichtig es ist, daß Joey mit einer systematischen, intensivierten Therapie anfängt. Ihr Vertrauen zu mir war groß genug, um ihn hierherzubringen und mir zu gestatten, ihn zu behandeln. Jetzt muß Ihr Vertrauen auch groß genug sein, mir zu glauben, wenn ich Ihnen sage, daß meine Behandlung nicht ausreicht. Hier sind
Informationen über die Klinik.« Sie schob eine Broschüre über den Schreibtisch. »Bitte, sprechen Sie mit Ihrer Frau darüber und bitten Sie sie, zu mir zu kommen, um darüber zu reden. Ich werde meinen Terminkalender so einrichten, daß wir uns treffen können, wann immer es ihr paßt. Aber sorgen Sie bitte dafür, daß es bald geschieht. Joey braucht diese Therapie, und er braucht sie jetzt, bevor es zu spät ist.«
Er nahm die Broschüre an sich, ohne sie zu öffnen. »Sie wollen, daß wir Joey in eine solche Klinik schicken, aber Sie wollten nicht, daß wir ihn auf eine andere Schule schicken.«
»Das ist richtig.« Sie verspürte das Bedürfnis, sich die Haarnadeln herauszuziehen und sich mit den Händen durchs Haar zu fahren, bis der Druck in ihren Schläfen verschwand. »Zu dem Zeitpunkt war ich noch der Ansicht
– hoffte ich noch –, an ihn herankommen zu können. Seit 216
September zieht Joey sich immer mehr in sich selbst zurück.«
»Der Schulwechsel war für ihn ein erneutes Versagen, ja?«
»Ja, leider.«
»Ich wußte, daß es ein Fehler ist.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Als Lois die Umschulung in die Wege leitete, hat er mich immer so angesehen. Es war, als sage er, bitte, gebt mir eine Chance. Ich konnte es fast hören.
Aber ich habe ihr den Rücken gestärkt.«
»Niemanden trifft eine Schuld, Mr. Monroe. Sie und Ihre Frau müssen sich mit einer Situation auseinandersetzen, in der es keine leichten Lösungen gibt. Nichts ist absolut richtig oder absolut falsch.«
»Ich nehme die Broschüre mit nach Hause.« Langsam, als sei die Broschüre in seiner Hand von bleierner Schwere, erhob er sich. »Dr. Court, Lois ist schwanger.
Wir haben Joey noch nicht erzählt.«
»Gratuliere.« Sie streckte die Hand aus, während sie überlegte, welche Auswirkung diese Neuigkeit auf ihren Patienten haben könnte. »Ich glaube, es wäre schön, wenn Sie es Joey beide zusammen erzählen würden, um es auf diese Weise zu einer Familienangelegenheit zu machen.
Sie drei erwarten ein Baby. Es ist sehr wichtig, Joey das Gefühl zu geben, daß er keineswegs ersetzt wird, sondern daß er dazugehört. Ein Baby, die Vorfreude auf ein Baby, kann in einer Familie sehr viele liebevolle Gefühle auslösen.«
»Wir haben befürchtet, daß er es uns vielleicht übelnimmt.«
»Das wäre möglich.« Timing, dachte sie – das
emotionale Überleben hing so oft vom richtigen Timing ab. »Je mehr er in den ganzen Prozeß, in alle
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Vorbereitungen einbezogen wird, desto größer wird sein Zugehörigkeitsgefühl sein. Haben Sie ein Kinderzimmer?«
»Wir haben ein unbenutztes Schlafzimmer, das wir herrichten wollen.«
»Ich könnte mir vorstellen, daß Joey recht gut mit einem Malerpinsel umgehen kann, wenn man ihm die
Möglichkeit dazu gibt. Bitte, rufen Sie mich an, wenn Sie über die Klinik gesprochen haben. Ich
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