Verlorene Seelen
mehr, Frank? Wissen Sie, da arbeitet meine Schwester. Sie hat uns in dem Hotel, wo sie Wirtschafterin ist, was Günstiges besorgt. The Ocean View Inn. Liegt zwar nicht direkt am Strand, aber in der Nähe. Wir sind am vierzehnten August hochgefahren und drei Tage geblieben. Können Sie in meinem Tagebuch nachlesen.«
»Ja, jetzt erinnere ich mich.« Er ließ den Arm sinken und drehte sich ihr zu. »Ich habe um Geld gewürfelt, und du bist nach unten gekommen und hast angefangen
herumzumeckern.«
»Du hattest fünfundzwanzig Dollar verloren.«
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»Die hätte ich zurückgewonnen, und das Doppelte dazu, wenn du mich in Frieden gelassen hättest.«
»Das Geld hast du aus meinem Portemonnaie
gestohlen.«
»Ausgeborgt hab’ ich’s mir, du alte Fotze. Ausgeborgt!«
Als die Auseinandersetzung immer heftiger wurde, machte Ben eine ruckartige Kopfbewegung in Richtung Tür. »Laß uns von hier verschwinden.«
Als sie die Tür hinter sich zuzogen, wurde das Geschrei von einem Krachen übertönt.
»Meinst du, wir sollten eingreifen?«
Ben blickte zur Tür zurück. »Was, und ihnen den Spaß verderben?« Etwas Schweres und Zerbrechliches traf die Tür und zersplitterte. »Laß uns was trinken gehen.«
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9
»Mr. Monroe, ich freue mich, daß Sie zu einem Gespräch vorbeigekommen sind«, begrüßte Tess den Stiefvater Joey Higgins’ an der Tür ihres Büros. »Meine Sekretärin ist zwar schon gegangen, aber wenn Sie möchten, kann ich uns einen Kaffee machen.«
»Danke, nicht nötig.« Verlegen – wie immer in ihrer Gegenwart – stand er da und wartete darauf, daß sie den ersten Schritt machte.
»Mir ist bewußt, daß Sie bereits einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich haben«, begann sie, ohne zu erwähnen, daß dies auch bei ihr der Fall war.
»Die zusätzliche Zeit opfere ich gern, wenn es Joey hilft.«
»Ich weiß.« Sie lächelte und forderte ihn mit einer Geste auf, Platz zu nehmen. »Ich hatte noch nicht oft Gelegenheit, allein mit Ihnen zu sprechen, Mr. Monroe, möchte Ihnen aber sagen, daß ich sehe, welch große Mühe Sie sich mit Joey geben.«
»Leicht ist das nicht.« Er faltete seinen Mantel zusammen und legte ihn auf den Schoß. Er war von Natur aus ein durch und durch ordentlicher Mensch. Seine Finger waren sorgfältig manikürt, sein Haar perfekt gekämmt, sein Anzug dunkel und konservativ. Tess meinte zu verstehen, wie unergründlich er einen Jungen wie Joey finden mußte.
»Aber für Lois ist es natürlich noch schwerer.«
»Tatsächlich?« Tess saß hinter ihrem Schreibtisch, denn sie wußte, daß die Distanz und die sachliche Atmosphäre ihm die Angelegenheit erleichtern würden. »Mr. Monroe, 211
nach einer Scheidung in eine Familie zu kommen und zu versuchen, die Vaterfigur für einen halbwüchsigen Jungen abzugeben, ist in jedem Fall schwierig. Wenn der Junge so gestört ist wie Joey, vervielfältigen sich die Schwierigkeiten in hohem Maße.«
»Ich hatte gehofft, inzwischen … nun ja …« Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich hatte gehofft, wir könnten allerlei zusammen unternehmen, Ballspiele und so. Ich habe sogar ein Zelt gekauft, obwohl ich zugeben muß, daß ich von Camping absolut keine Ahnung habe.
Aber er hat kein Interesse.«
»Er meint, nicht zugeben zu dürfen, daß er Interesse hat«, stellte Tess richtig. »Mr. Monroe, Joey ist in äußerst ungesundem Maße auf seinen Vater fixiert. Das Versagen seines Vaters ist sein Versagen, die Probleme seines Vaters sind seine Probleme.«
»Der Dreckskerl ist ja noch nicht mal …« Abrupt hielt er inne. »Entschuldigung.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß, daß es so aussieht, als sei Joeys Vater sein Sohn egal oder als wollte er ihn abwimmeln. Das kommt von seiner
Krankheit, doch darüber wollte ich mich nicht mit Ihnen unterhalten. Mr. Monroe, sie wissen, daß ich versucht habe, das Gespräch auf eine Intensivierung von Joeys Behandlung zu bringen. Die von mir erwähnte Klinik in Alexandria ist auf Gemütskrankheiten von Jugendlichen spezialisiert.«
»Davon will Lois nichts wissen.« Soweit es Monroe betraf, war die Sache damit erledigt. »Sie meint – und ich muß ihr recht geben –, daß Joey glauben würde, wir hätten ihn im Stich gelassen.«
»Die Übergangsphase wäre schwierig, das läßt sich nicht leugnen. Wir alle müßten unser möglichstes tun, um Joey 212
begreiflich zu machen, daß er nicht fortgeschickt wird, um ihn zu bestrafen, sondern daß man ihm noch
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