Verlorene Seelen
einer Meinung. In diesem Fall sind sie es.«
Nichts gefiel Ed besser als ein Problem, das mehr als eine Lösung hatte. »Wenn sie nicht einer Meinung sind, wie können Sie dann Psychiater und Priester sein?«
»Indem ich mich bemühe, den Geist und die Seele zu verstehen – die in so mancher Hinsicht ein und dasselbe sind. Wissen Sie, als Priester könnte ich mich stundenlang über das Thema der Schöpfung auslassen. Ich könnte einleuchtende Gründe anführen, warum es an dem, was in der Genesis steht, nichts zu rütteln gibt. Als Wissenschaftler könnte ich genau das gleiche mit der Evolutionstheorie machen und erklären, warum die Genesis ein schönes Märchen ist. Als Mensch könnte ich hier sitzen und sagen, mir doch wurscht, wie’s gewesen ist, wir sind eben da.«
»Und an welche der beiden Theorien glauben Sie?«
fragte Ben. Er zog es vor, wenn es nur eine Lösung, eine Antwort gab. Die richtige Antwort.
»Das hängt sozusagen davon ab, welche Kluft ich gerade trage.« Er nahm einen großen Schluck Bier und merkte, 232
daß er angenehm besäuselt sein würde, wenn er ein drittes Bier bestellte. Während er sein zweites Bier genoß, freute er sich schon auf das dritte. »Im Gegensatz zu dem, was der alte Frank Moore lehrte, gibt es nicht nur Schwarz oder Weiß, Ben, im Katholizismus nicht, in der Psychiatrie nicht und im Leben ganz sicher nicht. Hat Gott uns erschaffen, weil er gütig ist und mit vollen Händen austeilt und vielleicht Sinn fürs Lächerliche hat? Oder haben wir Gott erfunden, weil wir von Natur aus das verzweifelte Bedürfnis haben, an etwas zu glauben, das größer und mächtiger ist als wir selbst? Darüber debattiere ich oft mit mir selbst.« Er bestellte eine weitere Runde.
»Keiner der Priester, die ich kannte, hat je die Ordnung der Dinge in Frage gestellt.« Ben trank seinen Wodka aus.
»Entweder man verhielt sich richtig, oder man verhielt sich falsch. Gewöhnlich verhielt man sich falsch und mußte dafür büßen.«
»Die Sünde in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit. Die zehn Gebote sind unmißverständlich. Du sollst nicht töten.
Trotzdem war schon der Urmensch, der noch nicht sprechen konnte, ein kriegerisches Wesen. Der Soldat, der sein Land verteidigt, wird von der Kirche nicht verdammt.«
Ben dachte an seinen Bruder. Josh hatte sich selbst verdammt. »Einen Menschen nur so zu töten ist eine Sünde. Eine Bombe mit dem amerikanischen
Hoheitszeichen auf ein Dorf zu werfen ist patriotisch.«
»Wir sind lächerliche Kreaturen, nicht wahr?« sagte Logan leichthin. »Ich will Ihnen ein einfacheres Beispiel geben, bei dem es ebenfalls um eine Frage der Auslegung geht. Vor ein paar Jahren hatte ich eine Studentin, eine gescheite junge Frau, die, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, die Bibel besser kannte, als ich es je tun 233
werde. Eines Tages kam sie zu mir, um über das Thema Masturbation zu sprechen.« Er drehte sich ein Stück zur Seite und stieß dabei an den Ellbogen der Kellnerin.
»Entschuldigung, meine Liebe.« Dann wandte er sich wieder seinen Gesprächspartnern zu. »Sie führte ein Zitat an, das ich nicht mehr ganz zusammenbekomme, das aber in etwa besagte, es sei besser, wenn ein Mann seinen Samen in den Schoß einer Hure ergieße, als ihn auf die Erde fallen zu lassen. Ein ziemlich starkes Argument, könnte man sagen, gegen, äh, Selbstbefleckung.«
»Maria Magdalena war eine Hure«, murmelte Ed, bei dem der Alkohol allmählich zu wirken begann.
»Das war sie«, entgegnete Logan strahlend. »Jedenfalls lief die Argumentation meiner Studentin darauf hinaus, daß Frauen keinen Samen haben, der sich in irgend etwas ergießen oder auf die Erde fallen kann. Deswegen kann Masturbation nur eine Sünde sein, wenn man ein Mann ist.«
Ben erinnerte sich an einige schweißtreibende, von Bangigkeit erfüllte Beichten in der Pubertät. »Ich mußte den ganzen verdammten Rosenkranz beten«, murmelte er.
»Ich mußte ihn sogar zweimal beten«, warf Logan ein und sah Ben zum erstenmal entspannt grinsen.
»Was haben Sie ihr gesagt?« wollte Ed wissen.
»Ich hab’ ihr gesagt, daß die Bibel oft verallgemeinernd spricht und daß sie ihr Gewissen erforschen soll. Dann habe ich die Stelle nachgeschlagen.« Genüßlich trank er einen Schluck Bier. »Verflucht noch mal, so ganz unrecht hatte sie nicht.«
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Die Greenbriar Art Gallery bestand aus zwei kleinen, vollgestopften Räumen in der Nähe des Potomac. Ihr Gedeihen verdankte sie dem Umstand, daß es
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