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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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essen.
    Nein, bleib sitzen, ich hol ihn. Wann bist du das letzte Mal einkaufen gewesen?« fragte er, sobald er den Kühlschrank geöffnet hatte.
    »Fang bloß nicht damit an«, sagte sie und biß in ihre Hühnerkeule. »Außerdem weißt du ja, daß ich Expertin darin bin, mir schnell irgendwo was mitzunehmen und zu Hause zu essen.«
    223
    »Ich mag es nicht, wenn meine einzige Enkeltochter dauernd aus einem Pappkarton ißt.« Er kam mit einer Flasche Ketchup ins Zimmer zurück. Die Tatsache, daß sie beide gerade aus einem Pappkarton aßen, ignorierte er großzügig. »Wenn ich nicht hier wäre, würdest du mit einem Käsesandwich und einem Stapel Akten am
    Schreibtisch sitzen.«
    »Habe ich eben gesagt, ich sei froh, daß du da bist?«
    Tess hob ihr Weinglas und lächelte ihn an.
    »Du arbeitest zuviel.«
    »Mag sein.«
    »Wie wäre es, wenn ich zwei Tickets nach Saint Croix besorge und wir uns am Tag nach Weihnachten
    davonmachen? Laß uns eine Woche ausspannen und in der Sonne liegen.«
    »Du weißt, wie gern ich das täte, aber die Feiertage sind für einige meiner Patienten eine besonders schlimme Zeit.
    Ich muß für sie dasein.«
    »Ich habe noch mal nachgedacht.«
    »Du?« Den Ketchup ignorierend, begann sie, Pommes frites zu knabbern, und überlegte, ob in ihrem Magen noch Platz für eine zweite Portion Hühnchen war. »Worüber?«
    »Darüber, daß ich dich in diese Mordfälle hineingezogen habe. Du siehst ziemlich kaputt aus.«
    »Das liegt nur zum Teil an den Mordfällen.«
    »Hast du Probleme mit deinem Sexualleben?«
    »Das ist streng geheim.«
    »Im Ernst, Tess, ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Er hat mir erzählt, wie engagiert du in die polizeilichen Ermittlungen eingestiegen bist. Dabei wollte ich doch bloß, daß du das Täterprofil erstellst. Na ja, vielleicht wollte ich auch ein bißchen mit meiner 224
    gescheiten Enkeltochter angeben.«
    »Nervenkitzel aus zweiter Hand, was?«
    »Nach dem vierten Mord sieht es mit dem Nervenkitzel ein bißchen anders aus. Nur zwei Blocks von hier entfernt.«
    »Großpapa, das wäre auch passiert, wenn ich nichts mit den Ermittlungen zu tun hätte. Der springende Punkt ist, ich will etwas mit ihnen zu tun haben.« Sie dachte an Ben, seine Anschuldigungen, seinen Groll. Sie dachte an ihr wohlgeordnetes Leben und die plötzlichen kleinen Anfälle von Unzufriedenheit. »Vielleicht brauche ich das. In meinem Leben und in meiner Karriere ist bisher alles ziemlich glatt und problemlos verlaufen. Durch meine Beteiligung an den Ermittlungen habe ich gelernt, meine Person und das System aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.«
    Sie nahm ihre Serviette auf, knetete sie jedoch nur mit den Händen. »Die Polizei interessiert es nicht, wie es um sein Gemüt steht und wie er emotional motiviert ist.
    Trotzdem wird sie sich das Wissen darüber zunutze machen, um ihn zu fassen und zu bestrafen. Ich habe kein Interesse daran, daß er bestraft wird. Trotzdem werde ich mir alles, was ich über sein Gemüt und seine Motivation herausfinden kann, zunutze machen, damit er an weiteren Morden gehindert wird und damit ihm geholfen werden kann. Wer von uns hat recht, Großpapa? Heißt
    Gerechtigkeit Bestrafung oder Behandlung?«
    »Du sprichst mit einem Rechtsanwalt alter Schule, Tess.
    In diesem Land hat jeder Mann, jede Frau und jedes Kind das Recht, vor Gericht von einem Anwalt vertreten zu werden. Der Anwalt muß nicht unbedingt an seinen Klienten glauben, aber er muß ans Gesetz glauben. Das Gesetz schreibt vor, daß dieser Mann Anspruch auf einen 225
    fairen Prozeß hat. Und dieses System funktioniert normalerweise.«
    »Aber versteht das Gesetz einen gestörten Geist?« Sie schüttelte den Kopf und legte ihre Serviette wieder hin, als ihr klar wurde, daß sie sie aus reiner Nervosität mit den Händen knetete. »Nicht schuldig, da wahnsinnig. Müßte es nicht heißen nicht verantwortlich? Großpapa, er ist des Mordes an diesen Frauen schuldig, aber nicht dafür verantwortlich.«
    »Er ist nicht dein Patient, Tess.«
    »Doch, das ist er. Das ist er schon die ganze Zeit gewesen, aber begriffen habe ich das erst letzte Woche –
    nach dem letzten Mord. Er hat mich noch nicht um Hilfe gebeten, aber das kommt noch. Großpapa, kannst du dich erinnern, was du mir an dem Tag, an dem ich meine Praxis aufgemacht habe, gesagt hast?«
    Er musterte sie und bemerkte, wie schön sie im Kerzenlicht aussah, trotz ihres eindringlichen, sorgenvollen Blicks. Sein Mädel.

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