Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
Uferböschung, wo er sich offensichtlich einen besseren Überblick verschaffen wollte. Ihm waren als Einzigem die Strapazen des Tauchgangs nicht anzumerken, er schien sich aber auch nach wie vor nicht im Geringsten um die Arbeiter zu kümmern, die mit ihm das Bergwerk verlassen hatten. Rai schwamm zu der Stelle, an der auch Arton an Land gegangen war, und kletterte hinter ihm her die Böschung hinauf. Oben angekommen, musste er feststellen, dass ihre Ankunft nicht unbemerkt geblieben war, denn in respektvollem Abstand am Rande des Waldes hatten sich bereits zahlreiche Waldbewohner versammelt, die neugierig, aber auch mit besorgten Blicken, die Neuankömmlinge musterten. Keiner wagte es, sich ihnen auf mehr als zehn Schritt zu nähern. Dann erkannte Rai den Ältesten Terbas, der wutentbrannt auf ihn zusteuerte.
»Du verfluchter junger Steinschädel«, begrüßte er den Tileter, bebend vor Zorn. »Du hast also deinen Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt!«
»Das habe ich«, entgegnete Rai betont gelassen.
»Und nun wird es nicht lange dauern«, fauchte Terbas weiter, »bis die Gardisten hier auftauchen und uns alle wieder in die Minen schleifen. Und dort wird uns Ulag das Gehirn aus dem Schädel prügeln!«
»Ulag ist tot«, sagte Rai nicht ohne Stolz.
»Was?« Der Älteste war sichtlich verdutzt.
»Dieser Mann«, der kleine Dieb wies auf den reglos neben ihm stehenden Arton, »hat Ulag getötet und uns allen die Flucht ermöglicht. Die Gardisten wissen noch gar nicht, dass wir geflohen sind. Du brauchst dir also keine Gedanken zu machen.«
Terbas suchte nach Worten. Ganz offensichtlich hatte ihm diese Bemerkung den Wind aus den Segeln genommen, aber trotzdem wollte er seinen Zorn nicht einfach so verrauchen lassen.
Deshalb bemühte er sich, einen weiteren Grund zu finden, um seinem Ärger Luft zu machen: »Aber … aber die Gardisten werden doch bald merken, dass ein Teil der Minensklaven fehlt. Und dann werden sie nach ihnen suchen und uns hier finden …«
»Sind das die Waldbewohner, von denen du sprachst?«, unterbrach Arton, an Rai gewandt, das Gestammel des Ältesten.
Der Dieb wagte kaum, zu dem Einäugigen aufzublicken. Das war der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte. »Nun, eigentlich schon«, antwortete er zaghaft. »Aber …«
»Diese Leute haben Holzspeere und Fellrüstungen«, stellte Arton sachlich fest. »Wo sind die Metallwaffen und Eisenpanzer, die sie angeblich erbeutet haben?« Sein einzelnes Auge glänzte kalt im Licht der hoch stehenden Sonne.
»Von was sprecht ihr?«, mischte sich Terbas ein. »Wir verfügen über keine derartige Bewaffnung.«
Rai begann, sich unter Artons starrem Blick zunehmend zu winden. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, während seine Finger den Saum seines Wamses bearbeiteten. »Genau genommen«, setzte er mit unschuldig in die Höhe gezogenen Augenbrauen zu einer Erklärung an, »habe ich nie behauptet, dass sie über Metallwaffen verfügen. Ich habe nur erzählt, dass sie mal einen Sklavenzug überfallen haben und dass auf der Straße zum Hafen viel Schmiedegut transportiert wird, alles Weitere waren deine eigenen Schlussfolgerungen.« Rai versuchte ein gewinnendes Lächeln. »Ich musste dich doch irgendwie dazu bewegen, mit uns aus dem Bergwerk zu fliehen, Arton. Wir brauchen dich, wenn wir gegen die Gardisten kämpfen wollen. Und erst recht, wenn das mit Holzwaffen geschehen wird.«
»Wir sollen gegen die Gardisten kämpfen?« rief Terbas außer sich. »Seid ihr vollkommen verrückt geworden? Wir werden alle sterben!«
Weder Arton noch Rai beachteten das Geschrei des Alten. Der Einäugige hielt seinen Blick unverwandt auf den kleinen Dieb gerichtet, sodass es diesem schien, als würden sich mit jedem Augenblick dunkle Gewitterwolken höher vor ihm auftürmen. Wieder ging eine Bedrohlichkeit von dem vernarbten Mann aus, die vergleichbar mit der regungslosen Spannung beim Heraufziehen eines Sturms war. Aber Rai wich keinen Schritt zurück. Er fand, dass er gute Gründe für sein Handeln gehabt hatte, und wenn Arton dies nicht erkennen wollte, dann würde Rai die Konsequenzen eben tragen müssen. Sie waren bereits so weit gekommen, so viele Male hatte er allein oder mit Artons Hilfe nun schon vermeintlich unmögliche Dinge vollbracht. Mittlerweile war er es leid, immer zu hören zu bekommen, was er alles nicht tun könnte. Und ebenso war er es leid, ständig unterschätzt zu werden. Ein wenig Anerkennung für seine bisherigen Leistungen
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