Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
ganz darüber im Klaren war, warum es zu dieser plötzlichen Missstimmung zwischen ihnen gekommen war. Doch er musste sich eingestehen, dass der hochgewachsene Blondschopf wahrscheinlich recht hatte. Rai war so lange von allen möglichen Leuten wegen seiner jugendlichen Unerfahrenheit herumkommandiert worden, dass er es unglaublich genossen hatte, sich dem älteren Kawrin sowohl moralisch als auch aufgrund seiner Erfahrung überlegen zu fühlen. Endlich hatte er einmal die Fäden in der Hand gehalten, und ein anderer war seinen Anweisungen gefolgt. Jetzt musste er plötzlich feststellen, dass der vermeintlich so zurückhaltende Bajulaanhänger über Wissen verfügte, welches man auf keinen Fall einfach so auf der Straße aufschnappen konnte. Er konnte zwar nicht ermessen, wie es um den Bildungsstand des gemeinen Volks im fernen Fendland bestellt war, dennoch hegte er nun Zweifel daran, dass Kawrin aus den gleichen ärmlichen Verhältnissen stammte wie er selbst. Schon allein dies erregte Rais Argwohn, und zudem raubte es ihm das Gefühl der Überlegenheit, was wahrscheinlich den wahren Grund für seine Verärgerung darstellte.
»Ist ja schon gut«, lenkte er daher ein, »natürlich will ich deine Hilfe. Also sagst du mir, wie dein Plan aussieht, oder soll ich erst auf die Knie fallen, damit du ihn mir verrätst?«
Kawrin nickte zufrieden. »Ein kleiner Kniefall wäre durchaus angebracht, schließlich wirst du gleich in den Genuss der geballten Genialität meines Geistes kommen!« Als der Fendländer jedoch des finsteren Blickes gewahr wurde, mit dem ihn Rai bedachte, beeilte er sich fortzufahren: »Aber weil ich so gutmütig bin, verrate ich dir meine Idee auch so. Kurz gesagt, wir bauen uns selbst solche Xelosbecher, um die Armbrustschützen auf der Turmspitze auszuschalten. Sowohl einen Ersatz für die tönernen Behälter kann ich beschaffen als auch eine brennbare Flüssigkeit zum Befüllen unserer Feuergeschosse. Na, was sagst du dazu?«
»Wo willst du das denn herkriegen?«, erkundigte sich Rai, um Gelassenheit bemüht.
»Komm mit«, sagte Kawrin, wobei seine blauen Augen vor Begeisterung leuchteten. »Ich werde dir zeigen, wo Xelos’ dunkles Blut zutage tritt.«
Selbstverständlich war Rais Neugier geweckt, wenn er es auch nicht allzu deutlich zeigen wollte. Zögernd folgte er dem schlaksigen Fendländer zunächst in dessen Lager, wo dieser fünf leere, aus Tiermägen gefertigte Wasserschläuche zusammensuchte. Mit den Behältern behängt, schlug Kawrin eine östliche Route mitten durch den Wald ein, die sie diesmal von den hoch aufragenden Gipfeln des nahen Gebirges fortführte in einen Bereich der Insel, der noch vollkommen unberührt von menschlichen Siedlungsspuren zu sein schien. Nach ungefähr einer halben Stunde Marsch verließen sie unvermittelt den Schatten der Baumriesen und traten hinaus auf eine sanft ansteigende Felsschulter. Offensichtlich handelte es sich hier um ein vollkommen anderes Gestein als bei dem allgegenwärtigen dunklen Basalt der Gebirgshänge. Die Sonne wurde von dem beinahe kreidefarbenen Fels blendend zurückgeworfen, sodass die beiden nach dem Dämmerlicht des Waldes schützend die Hand vor die Augen halten mussten. Der bis auf einige Grasbüschel kahle Hang führte hinauf zu einer weiten, ebenfalls vollkommen vegetationslosen Ebene, die sich von ihrem tiefergelegenen Standort aus nur teilweise einsehen ließ. Große Schutthaufen und loses Geröll aus dunkleren Gesteinsarten ließen die Fläche verwahrlost und unwirtlich erscheinen. Zwei mächtige, keulenförmige Findlinge balancierten, der Schwerkraft trotzend, auf ihrer schmälsten Seite am Rande der Ebene wie zwei einsame Wächter, die ungebetene Eindringlinge fernhalten sollten. Ein unangenehm beißender Geruch lag in der Luft, der an eine rußende Fackel oder Öllampe erinnerte. Rai rümpfte missbilligend die Nase.
»Jetzt wirst du ein weiteres Wunder dieser Insel zu sehen bekommen, mein Freund«, verkündete Kawrin stolz. »Vielleicht liegt hier sogar die Pforte zur Unterwelt.« Mit diesen Worten begann er, den Hang zu erklimmen.
Rai verdrehte die Augen ob der reichlich übertriebenen Theatralik seines Gefährten, trotzdem konnte er nicht leugnen, dass er nun mehr als gespannt war, was ihn auf dieser verborgenen Hochebene erwartete. Deshalb folgte er Kawrin, ohne zu zögern, hinauf, bis er sich schließlich auf gleicher Höhe mit den seltsamen stehenden Steinkeulen befand. Von hier aus konnte er bereits über die
Weitere Kostenlose Bücher