Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
nachdenken.“ Ich stand an ihrem Bett. „Lass mich nachdenken.“ Hektisch sah ich mich in dem Raum um. Die Laken auf ihrem Bett waren feucht und hatten bereits blutige Flecken. „Hör zu, Allison“, sagte ich zu ihr. „Wir müssen jemanden um Hilfe bitten. Lass mich einen Krankenwagen rufen.“ Ich griff nach dem Handy auf ihrem Nachttisch. Auf Allisons Computer war eine Website geöffnet, die in allen Einzelheiten den Geburtsvorgang beschrieb. Das war kein Test, für den man büffeln konnte, dachte ich.
„Nein!“, stöhnte Allison und griff nach dem Telefon, noch bevor ich es konnte. „Nein, ruf niemanden an. Bitte, ich schaff das. Bitte, Brynn, bitte, hilf mir!“ Eine weitere Wehe schüttelte Allison durch, doch obwohl sie vor Schmerzen stöhnte, ließ sie das Telefon nicht los. Sie wollte nicht, dass ich irgendjemanden anrief.
Ich setzte mich neben sie aufs Bett und strich ihr das Haar aus der verschwitzten Stirn. „Warum?“, fragte ich verwirrt.
„Ich hab’s vermasselt“, gab Allison atemlos zurück, nachdem die nächste Wehe abgeklungen war. „Ich habe mit ihm geschlafen. Ich habe mit ihm geschlafen und bin schwanger geworden“,sagte sie verbittert.
„Mit wem? Wer war es, Allison?“, wollte ich wissen.
„Christopher“, stöhnte sie.
„Christopher wer?“ Meine Schwester antwortete nicht. „Es ist okay. Das passiert einer Menge Mädchen. Du kannst das Baby zur Adoption freigeben. Alles wird gut.“ Ich versuchte, meine Stimme so ruhig und ermutigend wie möglich klingen zu lassen, aber sogar ich glaubte nicht, was ich da erzählte.
„Was glaubst du, was Mom tun wird, wenn sie es herausfindet?“, stieß Allison gepresst hervor.
„Sie wird wütend sein, aber sie wird darüber hinwegkommen. Sie wird dir helfen, ein gutes Zuhause für …“
„Sie wird nie darüber hinwegkommen!“ Allison klang derart verbittert, dass ich erschrocken zurückzuckte. „Sie wird versuchen, es geradezurücken. Sie wird das Baby als ihr eigenes aufziehen wollen, oder sie sorgt dafür, dass ich es aufziehe. Ich werde für immer in diesem elendigen Kaff hängen bleiben! Sie wird mir mein Leben zur Hölle machen!“ Mit jedem Wort wurde sie hysterischer, bis sie schließlich aufrecht im Bett saß und ihre Nase meine berührte. „Wir müssen es loswerden!“
„Okay, okay“, versuchte ich, sie zu beruhigen. „Sag mir einfach, was ich tun soll.“
Allison musste schon stundenlang in den Wehen gelegen haben, bevor sie nach mir gerufen hatte. Während Mom und Dad sich für ihre Dinnerparty fertig gemacht hatten, hatte sie sich anscheinend in ihrem Zimmer versteckt. Meine Mutter war sogar, ohne anzuklopfen, in ihr Zimmer gekommen und hatte ihr gesagt, dass auf dem Küchentisch Geld lag, damit sie sich zum Abendessen eine Pizza bestellen konnte, dass sie darauf achten solle, alle Türen abzuschließen, da sie erst sehr spät wieder heimkommen würden, und dass es nicht gestattet war, Freunde einzuladen.
Fünfzehn Minuten nachdem ich entdeckt hatte, dass Allison in den Wehen lag, war sie schon bereit, das Baby herauszupressen. Ich habe meine Schwester nie so müde, so fertig gesehen. Ihr Haar war völlig verschwitzt, und sie hatte Schwierigkeiten, gleichmäßigzu atmen. Schwach hielt sie meine Hand, ihr zitterten die Beine. „Alli, lass mich den Arzt anrufen“, bettelte ich. „Ich habe Angst.“ Aber sie sagte Nein, wir würden das schon schaffen. Sie brauchte mich. Sonst niemanden.
Das hatte ich mein ganzes Leben lang von ihr hören wollen. Meine wunderschöne, starke, unabhängige große Schwester brauchte mich – endlich. Mich, die kleine Schwester, die immer in ihrem Schatten gestanden hatte.
„Bitte, Brynn“, flüsterte sie. Und das war das einzige Wort, das ich brauchte, um loszulegen. Ich fing an, alles zusammenzutragen, von dem ich glaubte, dass es für die Geburt eines Kindes notwendig war. Saubere Handtücher und Laken, kühle Waschlappen, Franzbranntwein, Schere, Müllsäcke. Als ich in Allisons Zimmer zurückkehrte, saß sie aufrecht im Bett und umklammerte ihre Knie. Ihr Kinn hatte sie ganz auf die Brust gedrückt. „Ich muss pressen“, weinte sie. „Ich muss pressen!“
Ich ließ die Handtücher fallen und stolperte an ihre Seite. „Wir müssen dir die Jogginghose ausziehen, Alli“, sagte ich sanft.
„Nein!“, rief sie. „Nein, ich will nicht, dass es kommt, Brynn. Bitte.“ Sie schluchzte und sah verzweifelt zu mir auf. „Ich will das nicht – mach, dass es aufhört.
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