Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Zitrusduft erfüllt. „Du kannst für heute ruhig Schluss machen, Allison“, ermuntert Claire sie, aber Allison besteht darauf, bis zum Ende ihrer Schicht zu arbeiten.
„Wenn ich fertig bin, gehen wir noch einen Kaffee trinken. Dann haben wir ausreichend Zeit, uns zu unterhalten“, sagt sie mit einem breiten Grinsen. Seit der Ankunft ihrer Schwester ist Allison wie ausgewechselt. Ihre Angespanntheit, die in den letzten Tagen so spürbar war, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Claire freut sich für Allison, auch wenn sie spürt, dass zwischen den Schwestern noch nicht alles geklärt ist. Allison versucht zu sehr, Brynn zu gefallen, die sehr distanziert wirkt und offensichtlich gern überall anders wäre, nur nicht hier.
Claire hat mit einem Mal Sehnsucht nach ihrer eigenen Schwester. Sie hat schon eine ganze Weile nicht mehr mit ihr gesprochen und beschließt, sie an diesem Abend von zu Hause aus anzurufen. Claires Gedanken kreisen um die Frage nach einem Bruder oder einer Schwester für Joshua. Sie hat so schöne Erinnerungen an ihre Kindheit mit ihrer Schwester, daran, jemanden zu haben, mit dem man Geheimnisse teilt, an die Sicherheit, zuwissen, dass die Schwester immer für einen da ist, wenn man sie braucht. Früher haben sie und Jonathan über eine weitere Adoption nachgedacht. Nun Allison zu beobachten, die es offensichtlich genießt, mit ihrer Schwester zusammen zu sein, und gleichzeitig zu sehen, dass Joshua darunter leidet, ein Einzelkind zu sein, lässt sie darüber nachdenken, das Thema noch einmal anzusprechen.
Claire hört die Glocke über der Eingangstür und sieht, wie ein Mädchen zögerlich den Laden betritt, als wenn das Überqueren der Schwelle eine folgenschwere Entscheidung ist. Sie braucht ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass es sich um Charm Tullia handelt. Ihr braunes Haar, das sie in einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden hat, ist feucht von der nebligen Luft, und ihr Gesicht ist ganz blass vor Sorge. Sie hat sich herausgeputzt und trägt hochhackige Schuhe. Fröstelnd hält sie ihre blaue Jacke zu, als wenn es im Laden kälter wäre als draußen.
„Hey, Charm“, begrüßt Claire sie. „Wie geht es dir? Ich habe das von Gus gehört. War heute die Beerdigung? Es tut mir so leid …“
Charm nickt und reckt den Kopf; sie schaut sich im Laden um, als würde sie jemanden suchen.
„Arbeitet hier ein Mädchen namens Allison Glenn?“, fragt sie leise.
„Ja, tatsächlich. Sie ist gerade hinten im Laden.“ Eindringlich mustert Claire Charm. „Geht es dir gut?“, will sie von dem Mädchen wissen. „Du siehst nicht so aus, als würdest du dich sonderlich wohlfühlen“, stellt sie besorgt fest.
„Mir geht es gut“, erwidert Charm, ohne zu zögern. „Meinst du, ich könnte eine Minute mit ihr sprechen? Es dauert auch nicht lang.“
„Sicher.“ Claire ist verwirrt. „Ich wusste gar nicht, dass du Allison kennst. Seid ihr zusammen zur Schule gegangen?“
Charm beißt sich auf die Lippe, zögert, bevor sie antwortet. „Allison und ich hatten … einen gemeinsamen Freund. Ich habe gehört, dass sie jetzt hier arbeitet. Ich will ihr nur mal Hallosagen.“ Hinter sich hört Claire Schritte und Lachen. Bevor sie sich umdrehen kann, bleiben Allison und Brynn abrupt stehen.
„Allison, hier ist jemand, der dich sprechen möchte.“ Noch während Claire die Worte ausspricht, spürt sie, dass das kein glückliches Wiedersehen wird. Sie lässt den Blick zwischen den Mädchen hin und her wandern und sieht, dass alle drei überrascht sind. Allison legt beschützend den Arm um ihre Schwester, die bestürzt wirkt.
„Allison?“, fragt Charm und befeuchtet sich die Lippen mit der Zunge. „Können wir eine Minute reden?“
Allison schaut sich um, sie blickt zur Kinderabteilung, wo Joshua immer noch ruhig spielt. Claire kann nicht sagen, was sie da über Allisons Gesicht huschen sieht. Panik? Angst? Vielleicht beides. Brynn sieht so aus, als wolle sie am liebsten davonlaufen.
„Allison?“, fragt Claire. „Alles in Ordnung mit dir?“
„Ja.“ Sie nickt. „Ich bin nur überrascht. Wir haben uns sehr lange nicht gesehen.“
Claire schaut Charm an, die ihr daraufhin ein kleines Lächeln schenkt. „Ist schon okay, Claire.“
„Nun gut.“ Claire klingt nicht überzeugt. „Ich gehe nach hinten zu Joshua und lass euch miteinander reden. Brynn, willst du mit mir kommen?“ Brynn nickt, und gemeinsam gehen sie zu Joshua, der immer noch dabei ist, aus seinen
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