Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Bett krabbelte und zu ihrer Schlafzimmertür tapste, sich dort auf Zehenspitzen stellte, um den Messingknauf zu erreichen und die Tür aufzumachen, und sie in einer eindeutig zweideutigen Situation überraschte.
Sie standen einfach nur da, und die Dunkelheit lastete schwer auf ihren Schultern. Claire spürte Jonathans erste Träne, die heißüber ihre Schläfe und weiter an ihrer Wange entlanglief. Sie unterdrückte den Drang, sie fortzuwischen, beobachtete stattdessen, wie sie über ihren Körper lief, von ihrem Schlüsselbein zwischen ihren Brüsten entlang, bis sie schließlich auf ihre Zehen fiel. Claire nahm Jonathan an die Hand und führte ihn zum Bett. Vorsichtig zog sie ihm die Boxershorts an und steckte seine eiskalten Füße in ein Paar Wollsocken. Dann zog sie ihm ein altes T-Shirt über den Kopf und seine Arme durch die Ärmel. Die ganze Zeit über weinte Jonathan stumm. „Ich weiß“, sagte Claire wieder und wieder. „Ich weiß.“ Sie zog die Decke bis zu seinem Kinn hoch und krabbelte nackt, wie sie war, neben ihm ins Bett. Jonathans Schlaf war unruhig. Claire schlief überhaupt nicht.
Eine ganze Zeit lang konnte Claire nicht über Ella reden. Sie erinnerte sich an das letzte Halloween, als Ella noch bei ihnen gewesen war, und wie sie als kleine Prinzessin verkleidet war, mit einem silbrig schimmernden Kleid und kleinen Plastikpumps, die sie an der ersten Straßenecke stehen ließ. „Das sind Mörderbienen“, sagte sie und schleuderte sie von ihren Füßen. Oder daran, wie sie sie und Truman eng aneinandergekuschelt in dem Hundekörbchen gefunden hatten, Stirn an Stirn friedlich schlafend.
Manchmal sah sie den Anflug eines Lächelns auf Jonathans Gesicht, nur für einen kurzen Moment, bevor es wieder verschwand, und sie wusste, dass er auch an Ella dachte.
Sie versuchten einen Neuanfang, probierten noch mehr Fruchtbarkeitsbehandlungen aus und sprachen darüber, sich vielleicht doch für eine Adoption anzumelden. Sie hatten ihre Hoffnungen in Ella gesetzt. Und nun standen sie wieder mit leeren Händen da. Kinderlos und unglücklich.
Aber nicht einmal ein Jahr später war Joshua zu ihnen gekommen. Er gehört uns, dachte Claire. Für immer. Ihr war eine zweite Chance auf Mutterschaft gegeben worden.
Jetzt hatte sie das Gefühl, das Gleiche für jemand anderen tun zu wollen. Sie würde Allison Glenn diese zweite Chance geben – für einen Neuanfang, ein ganz neues Leben.
CHARM
Im Krankenhaus dauert es länger. Charm versucht, Gus anzurufen, um ihn wissen zu lassen, dass sie so bald wie möglich nach Hause kommt, doch er geht nichts ans Telefon. Als sie ihn an diesem Morgen verlassen hat, schien es ihm noch gut zu gehen. Mittags hat sie mit ihm gesprochen und gedacht, dass er müde klingt. Er wünschte sich Kartoffelmus zum Abendbrot. Charm drückt während der Fahrt immer wieder auf Wahlwiederholung, aber es geht einfach niemand ran. Mit quietschenden Bremsen hält sie auf der Einfahrt vor dem Haus, reißt die Tür auf und findet einen Haufen von Gus’ Gartenwerkzeugen auf der Erde neben seinen Blumenbeeten.
„Gus!“, ruft sie verzweifelt und öffnet die Hintertür. „Gus! Ist mit dir alles in Ordnung?“ Charm läuft durch das kleine Haus, stößt die Tür zu seinem Zimmer auf und findet ihn dort schlafend in seinem Bett. Seine Brust hebt und senkt sich, sein Atem geht rasselnd.
Still zieht sich Charm ins Wohnzimmer zurück und lässt sich aufs Sofa fallen. Es ist das gleiche Sofa, das schon bei ihrem Einzug hier stand. Die Kissen sind etwas durchgesessen, und der blaugrün karierte Stoff ist verblichen und abgenutzt. Aber die Couch ist bequem und riecht nach Zuhause. Charm ist so müde. Zu müde, sich Gedanken über Gus und die Schule zu machen. Sie legt sich hin, zieht eine Decke über sich und schließt die Augen. Sie ist erst einundzwanzig und fühlt sich uralt, als wenn ihre Knochen brüchig wären und sie graue Haare hätte. Das Telefon klingelt, und sie ist zu müde, um aufzustehen. Soll der Anrufbeantworter rangehen, sagt sie sich. Ich hab keine Lust.
„Ich wollte nur mal fragen, wie es euch geht.“ Die Stimme ihrer Mutter erfüllt den Raum. Sie klingt unschuldig, geradezu besorgt. Aber über die Jahre hat Charm gelernt, dass nichts, was ihre Mutter sagt oder tut, unschuldig ist. Reanne plappert ein wenig über ihre Arbeit und Binks. Erstaunlicherweise sind sie immer noch zusammen. Sie verabschiedet sich mit einer Einladungzum Essen für nächste Woche. „Ich muss die
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